Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Alle Fotos: Jonathan Stumpf
Der Autor im Einsatz…

Aus der Bundesrepublik in den Ukrainekrieg

von Jonathan Stumpf

Tri, dwa, simdesjat“, rauscht es durchs Funkgerät. „Tri, dwa, sim, null“, antworte ich und richte den sowjetischen 120-mm-Mörser auf das neue Ziel aus. Dann lässt der weißrussische Geschützführer die mit fünf Treibladungen ausgestattete Mörsergranate ins Rohr gleiten. Anschließend überprüfe ich, ob der Mörser noch im Wasser stehe und es mit dem Zahlensalat seine Richtigkeit habe. „Three, two, seven, zero, elevation same“, bestätigt der untersetzte Mann mit den dunklen Bartstoppeln. Jetzt ziehe ich das Visier ab und straffe die Abzugsleine: „Ready to fire!“ „Open se fire!“, brüllt der Weißrusse. Ich ziehe, es kracht. Während sich diese Szene mehrfach wiederholt und sich nur die Zahlen ändern, macht ein alter Deutscher mit Rauschebart die nächsten Mörsergranaten scharf. Zuerst wird der Zünder, auf den später der Schlagbolzen trifft, mit einem Gummihammer hineingeklopft, wobei es ratsam ist, nicht zu übermütig zuzuschlagen. Danach werden die zusätzlichen Treibladungen – mit Schwarzpulver gefüllte Stoffsäckchen – um das schlanke Ende der Mine gebunden. Zuletzt wird die Schutzkappe über dem Aufschlagzünder abgeschraubt und die scharfe Granate an den Ladeschützen weitergereicht. Eigentlich bin ich der Ladeschütze, aber der Geschützführer wollte für ein paar Tage die Rolle mit mir tauschen, damit ich auch Erfahrung als Richtschütze sammeln könne. Der Kerl scheint mich zu mögen.

Ein deutscher Freiwilliger auf Seiten der Ukraine beschießt im Jahr 2024 die Russen mit einem ihrer Mörser aus dem Zweiten Weltkrieg.

Den alten Deutschen, vom Habitus Landstreicher, hat er hingegen ziemlich auf dem Kieker. Ständig staucht er ihn wegen irgendwelcher Lappalien zusammen. Ausgebildet worden bin ich an einem alten iranischen 82-mm-Mörser und an jugoslawischen 60-mm-Mörsern. Mir ist der große sowjetische Mörser aus dem Zweiten Weltkrieg, den wir in Kombination mit einem moderneren bulgarischen Zweibein verwenden, mit dem sich auch die Horizontalachse des Mörsers stufenlos verstellen läßt, sehr sympathisch. Man benötigt weniger Feinmotorik, um den schweren Minenwerfer ins Wasser zu bekommen, und nach ein oder zwei Schuß gibt es praktisch keine durch den Rückstoß verursachte Verschiebung mehr nach links oder rechts. Mörser sind im Gegensatz zu Haubitzen Steilfeuergeschütze mit einer eher geringen Reichweite, weshalb ihre Bedienmannschaften im Soldatenjargon auch als Artillerie der Infanterie oder als Zigeunerartillerie bezeichnet werden. Ihr erster dokumentierter Einsatz erfolgte im Spätmittelalter bei der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1453. Während heute immer noch Mörser zum Einsatz kommen, die vor achtzig Jahren erstmals in Dienst gestellt worden waren, hat es im Bereich der Munition und Feuerleitsysteme enorme Verbesserungen gegeben. So wird unser Mörserfeuer beispielsweise von Drohnenpiloten beobachtet und gelenkt.

Unsere Stellung könnte aus einem Handbuch für den Einsatz von Mörsern stammen. Der Minenwerfer befindet sich in einer Schlucht, dahinter gibt es unter einem großen Strauch einen Unterstand und ein Munitionsdepot, beide mannstief. Es ist eine schweißtreibende Arbeit, solche Löcher auszuheben. Anfangs trägt man noch Helm und Plattenträger, dann schaufelt man ohne Helm weiter, und irgendwann liegt auch der Plattenträger neben dem Aushub. Die Rationalisierung dieses Verhaltens läßt sich wie folgt in Worte fassen: Im Loch ist man vor Schrapnellen geschützt, schlägt eine Granate hingegen im Loch selbst ein, nützen auch Helm und Plattenträger nichts mehr. Unweit unserer Stellung befinden sich einige Sommerhäuser, sogenannte Datschen. Um nicht von feindlichen Drohnen gesichtet zu werden, verbringen wir die meiste Zeit im Erdgeschoß einer solchen Datscha. Dabei ist es schon Frühling, und die von Seen und Tümpeln durchzogene Landschaft ist nichts weniger als malerisch. Gestört wird die Idylle aber nicht nur durch russische Drohnen, sondern auch durch ein Schild mit der Aufschrift „Minen“. Wir halten uns also lieber an den ausgetretenen Pfad zu unserem Mörser und streifen sonst wenig in der Gegend herum. Trotzdem ist es schade, daß wir die Stellung schon nach zehn Tagen verlassen müssen, weil unsere Einheit aus diesem Frontabschnitt in der Oblast Charkiw herausgelöst wird. Wir verlegen in den Donbass. Die Schlacht um Tschassiw Jar hat begonnen.
Aber wie bin ich überhaupt hierher geraten?

Es gibt, glaube ich, zwei Sorten von Menschen. Die einen fürchten den Tod mehr als die Langeweile, die anderen die Langeweile mehr als den Tod. Hinzu kommt die Tatsache, daß man in dem vom Krieg gebeutelten Land Personen trifft, die den Lauf der Geschichte beeinflussen, was für mich als Historiker einen ganz besonderen Reiz hat. So habe ich beispielsweise mit dem berüchtigten Dennis Nikitin, dem Kommandeur des aus russischen Überläufern und Nationalisten gebildeten Russischen Freiwilligenkorps, eine Limonade getrunken. Zwischen uns war kein Mißtrauen, obwohl ihm während unserer Unterhaltung klar geworden sein musste, daß ich ein Liberaler sei. Der BILD-Reporter Paul Ronzheimer hingegen mußte sich vor seinem Treffen mit Nikitin einen Sack über den Kopf ziehen lassen. Er ist eben kein Kriegsfreiwilliger. Neben all den vorgenannten Aspekten waren für meinen Entschluß, in der Ukraine zu kämpfen, auch meine persönlichen Beziehungen zu einer Handvoll Ukrainerinnen von Bedeutung. Ich hatte seit meiner ersten mehr oder weniger zufälligen Reise nach Kiew im Jahr 2013 den Kontakt zu mehreren Liebschaften und einem spanischen Kriegsberichterstatter gehalten. Letzteren hatte ich in Moldawien kennengelernt und in den Folgejahren häufiger in seiner ukrainischen Wahlheimat besucht.

„Kündigung“ durch ausländische Freiwillige ist erst nach sechs Monaten möglich, damit diese nicht schon beim ersten Artilleriebeschuß in einen Zug nach Polen steigen.

Nachdem ich mich also im Oktober 2023 dazu entschlossen hatte, den ukrainischen Streitkräften für mindestens ein halbes Jahr beizutreten, begab ich mich ins Rekrutierungsbüro in der ukrainischen Hauptstadt, wo man mich darum bat, einen Stapel Dokumente zu unterschreiben. Da ich vorher Anstalten machte, das ganze Vertragswerk zu lesen, zog der zuständige Offizier eine Braue hoch und sagte: „I think I know what you’re looking for.“ Dabei tippte er mit dem Zeigefinger auf den letzten Paragraphen, in dem sinngemäß stand, Ausländer dürften ihr Angestelltenverhältnis auch vor Ablauf der regulären dreijährigen Dienstzeit jederzeit kündigen. Natürlich nicht während eines Gefechts. Mittlerweile ist man dazu übergegangen, eine Kündigung erst nach sechs Monaten zu gestatten, damit die Ausländer nicht schon beim ersten Artilleriebeschuß ihre Verträge zerreißen und in einen Zug nach Polen steigen.

Das erste Gefecht kommt mit Drohnen geflogen.

Zunächst war ich im Herbst und Winter bei Kupjansk eingesetzt, wobei ich während dieser Zeit keinen einzigen Schuß abgeben, dafür aber umso häufiger den schweren amerikanischen Maschinengranatwerfer Mk 19 spazieren tragen mußte. Das erste Gefecht erlebte ich im März an der Grenze zur russischen Region Belgorod. Ein lauter Knall, ein metallisches Geräusch, dann drang blauer Rauch in den kleinen Betonbunker ein. Zum wiederholten Mal hatte eine Drohne eine Handgranate in unseren Graben plumpsen lassen. Genau vor die Stahltüre, die der junge, blonde Weißrusse, der hier das Sagen hatte, glücklicherweise im letzten Augenblick zuziehen konnte. Einmal schlug sogar eine etwa fünfzig Zentimeter lange Stichflamme durch den Türschlitz. Der Plan für dieses Gefecht war simpel: Ein von der eigenen Artillerie vorbereiteter Sturmangriff sollte Putins Truppen zur Flucht bewegen. Zur Unterstützung des Angriffs standen außerdem zwei Panzer und mehrere Schützenpanzer bereit. Der Auftrag unserer vierköpfigen Granatwerferbesatzung lautete: Nachschub- und Rückzugswege der Russen abschneiden. Da uns das mit der Zerstörung eines Fahrzeugs und der Beschädigung eines weiteren auch durchaus gelungen war, hatten sie drüben nun verständlicherweise ein gesteigertes Interesse an unserer Neutralisierung.

Nachdem zunächst Mörser- und Artilleriegranaten in unmittelbarer Nähe zu unserem Graben eingeschlagen hatten, schickte man nun Drohnen, an denen Handgranaten baumelten. Als dann auch noch ein russischer Panzer auf unsere Stellung schoß, vergrub der junge Weißrusse sein vom Krieg gezeichnetes Gesicht in den vor Dreck starrenden Händen und murmelte apathisch „That’s bad. That’s very bad.“ Mein Blick wanderte zu dem jungen Schweden, der mir gegenübersaß und sich bedächtig mit dem Handrücken übers Kinn strich, dann zu dem noch jüngeren Österreicher. Der 20jährige war erst einen Monat zuvor zu unserem Haufen gestoßen. Beide verzogen keine Miene.

…sein bundesdeutscher Kamerad
schwer bewaffnet bei der Rast

Bedauern, das Tal der Könige und die Chinesische Mauer nicht rechtzeitig besucht zu haben

Ich reflektierte in dieser Situation noch einmal ausgiebig über die Gründe, derentwegen ich mich in dieser mißlichen Lage befand. Ich war zwar ein wenig traurig, aber es war mehr eine Art von Bedauern. Bedauerlich fand ich beispielsweise den Umstand, das Tal der Könige nie besucht zu haben und nicht auf der Chinesischen Mauer spazierengegangen zu sein. Gleichzeitig fragte ich mich, was bloß mit unseren eigenen Panzern los sei. Eine Stunde zuvor noch hatte ich einen der beiden Tanks unmittelbar neben unserer Stellung gesehen. Ich sollte es später an diesem Tag erfahren: Ein Panzer wurde von einer Drohne getroffen, der andere fuhr auf eine Mine. Nachdem die angetrunkene Besatzung ausgebootet hatte, wurde der Panzer mittels Handgranatenabwürfen durch Drohnen in die geöffneten Luken vollständig zerstört. So knapp wie an diesem Tag war es weder in den Monaten zuvor noch in den Monaten, die noch folgen sollten. Unser Maschinengranatwerfer wurde durch die Schrapnelle einer Panzergranate zerstört. Das Gebäude, in dem sich meine Kameraden zu diesem Zeitpunkt als taktische Reserve in Bereitschaft hielten, wurde von zwei schweren Fliegerbomben nur ganz knapp verfehlt. Dabei waren sämtliche Fensterscheiben zerborsten. Auch die zuvor geschlossenen Türen in den Gängen der drei oberirdischen Stockwerke standen nun alle offen oder waren aus den Angeln gerissen. Das Nebengebäude brannte lichterloh. Im Ganzen hausten wir fünf Tage und Nächte in dieser Ruine, in ständiger Erwartung eines russischen Gegenangriffs.

Nachdem meine Einheit im April an die Front bei Tschassiw Jar verlegt hatte, wo ich als Ladeschütze am 82-mm-Mörser eingesetzt war, bat ich – wie mehrere Monate im Voraus mit meinem Zugführer abgesprochen – am 8. Mai um meine Entlassung. Im Zug nach Kiew notierte ich: Heute ist der 9. Mai. Eigentlich wollten die Russen Tschassiw Jar bis zu diesem historischen Datum, an dem in Moskau der Sieg über Deutschland gefeiert wird, erobert haben. Das sagten zumindest Militärblogger und Analysten. Von einer Einnahme der Stadt in der Oblast Donezk sind Putins Truppen indes noch weit entfernt. Die durch einen Kanal in West und Ost geteilte Stadt wird auch von der Internationalen Legion verteidigt. Vor der russischen Invasion lebten in Tschassiw Jar etwa 13.500 Menschen, von denen trotz der extrem „bleihaltigen“ Luft noch ein paar hundert in ihren Häusern oder dem, was davon übrig war, ausharrten. Jedes Mal, wenn ich einen alten Mann sehe, der sich auf seinem klapprigen Fahrrad in aller Seelenruhe seinen Weg durch die Geisterstadt bahnt, während die Russen sie mit Mörsern, Artillerie und Panzern unter Dauerbeschuß nehmen, muß ich unwillkürlich den Kopf schütteln. Diese alten Knacker sind Stoiker, wenn es je welche gab, denke ich dann. Unsere Mörserstellung befindet sich auf der westlichen Seite der Stadt unweit des Kanals. Wir haben es uns im Keller eines Hauses mit großem Garten bequem gemacht. Unseren rumänischen Minenwerfer M96A haben wir mit Gerümpel und Asbest-Wellplatten getarnt. Die Mörsergranaten lagern im Nebengebäude. Zum Glück ist es nicht dieses, sondern das andere Nebengebäude, das gegen Ende unseres ersten Einsatzes einen Volltreffer erhält. Da das Feuer auf unser Gebäude überspringt, das ebenfalls bis auf die Grundmauern niederbrennt, müssen wir umziehen.

Impressionen aus Tschassiw Jar

Alter Schwede! Eine Schamanin und zwei Heilige

Es ist nicht so, als habe man uns nicht davor gewarnt, in der ersten Stellung zu bleiben. Das war folgendermaßen: Gerade erst habe ich mit einem blutjungen, schlaksigen Weißrussen im Laufschritt eine EcoFlow-Batterie aus der etwa einen Kilometer entfernt gelegenen SPG-9-Stellung herangeschleift, um sie mit unserem Benzingenerator zu laden, als plötzlich ein Grieche und ein alter Schwede aus meiner Gruppe zusammen mit einem ukrainischen Sanitäter auftauchen. Sie sollen potenzielle Verbandsplätze auskundschaften. Diese Versammlung im Vorgarten unseres Domizils veranlaßt eine ältere Frau dazu, ihren Morgenspaziergang zu unterbrechen und uns unter Tränen zu beschwören, woanders Stellung zu beziehen. Das Haus sei nämlich von einer Schamanin bewohnt gewesen, einer sehr bösen Frau. Es bringe Unheil, sich dort aufzuhalten. Wir nicken verständnisvoll und rühren uns dennoch nicht vom Fleck. Diese „böse Frau“ muß sich, wie ich am Inhalt der Schränke ablesen kann, wie meine Großmutter gekleidet haben. Ihr Sohn hat offenbar 1982 seine Ausbildung zum Klempner abgeschlossen und zwei Jahre später den Führerschein gemacht. An den zahlreichen Familienfotos, die in einem anderen Zimmer den Fußboden pflastern, läßt sich unschwer erkennen, daß offenbar auch Hexen geliebte Großmütter sein können. Neben den Myriaden von Einmachgläsern findet sich in dem Haus außerdem eine Menge Heiligenbilder. Besonders häufig: der Heilige Nikolaus. Sankt Florian, der Schutzpatron gegen die Gefahr des Feuers, wäre vielleicht eine bessere Wahl gewesen.

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