Die Medalgesalm
Foto: Heinrich Seyr

Auf der Alm im 21. Jahrhundert

von Heinrich Seyr

Die Almwirtschaft gehört im Alpenraum seit Jahrhunderten zur Tradition und Kultur. So auch in Südtirol, wo es noch ca. 1.500 bewirtschaftete Almen gibt. Die grundlegenden Aufgaben der Almwirtschaft haben sich im Laufe der Jahrhunderte im wesentlichen kaum geändert: Primär zählt dazu der gesunde Weideaufenthalt der Tiere, die Landschaftspflege hinsichtlich der Weiden und somit das Eingrenzen bzw. Verhindern der Verbuschung sowie die Einsparung von Futter – denn ohne den sommerlichen Almaufenthalt der Tiere würde bei vielen Bauern das Futter im Tal nicht reichen. Zum anderen zieht es viele Sennerinnen und Senner jedes Frühjahr wieder voller Triebkraft, Tatendrang und Erwartung auf ihre liebgewonnenen Almen, ohne die sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen können.

Zweites Standbein Schankbetrieb

Diente zu Beginn der Almhistorie deren Bewirtschaftung ausschließlich der Tierhaltung und dem Tierwohl, ist in den vergangenen Jahrzehnten auf den geographisch gün­stig gelegenen Almen als zusätzliches Standbein immer mehr die Almausschank dazugekommen. Auch wenn der größte Teil der Almen nach wie vor der traditionellen Viehbewirtschaftung nachgeht, gibt es zwischenzeitlich doch etliche, die das touristische Potential erkannt und zusätzlich einen Schankbetrieb eröffnet haben. Dies ist bei einigen Almen ein guter Zu- und Nebenerwerb geworden, da das Wandern und die Bewegung in freier Natur immer beliebter wurden und auch in Zukunft immer größeren Anklang finden dürften – dies zeigen die Erfahrungen der letzten zehn Jahre. Blickt man weiter zurück, so war das Wandern seinerzeit eher etwas für die ältere Generation; betrachtet man dessen Beliebtheit hingegen heute, so ist es inzwischen eine körperliche Ertüchtigung für Jung und Alt.

Namenszusatz „Alm“ als Mogelpackung

Diese Entwicklung hat auch ihre Schattenseiten, da sich immer mehr Gourmettempel in luftiger Höhe, aber auch in Skiorten den Namenszusatz „Alm“ einverleiben, da ihr Name dann im Fall gewisser Betriebe in gewissen Gegenden anscheinend typischer und traditioneller klingt und entsprechend „zieht“. Und das, obwohl diese Betriebe rein touristisch ausgelegt sind und man sich daher notgedrungen die Frage stellen muß, was diese überhaupt mit einer Alm zu tun hätten. Daß dadurch in der Gesellschaft letztlich vermehrt ein falsches Bild gezeichnet wird, ist nicht verwunderlich – sieht doch Otto Normalverbraucher immer mehr solcher Konstrukte mit der historisch gewachsenen Bezeichnung „Alm“ im Namen. Wir sind es unserer seit Jahrhunderten bestehenden Almtradition aber schuldig, daß eine Alm wirklich eine Alm ist und es auch bleibt.

Ein weiteres Thema, das den Almbetreiber mehr und mehr beschäftigt, ist die ausufernde Bürokratie, zu der nicht nur Land und Gesamtstaat, sondern mittlerweile auch die EU das ihre beitragen. Zu der immer mehr eingeforderten Digitalisierung – die ja nicht unbedingt schlecht ist, wobei sich die ältere Generation damit nicht mehr oder nur sehr schwer anfreunden wird – kommen immer mehr Formulare, Listen, Bescheinigungen, Auflagen und dergleichen.

Die Zahl der Wölfe im Alpenraum verdoppelt sich alle zweieinhalb Jahre – zum Schaden der Almbetreiber und ihrer Nutztiere.

Seit ungefähr zehn Jahren befindet sich das Großraubwild – Bär, Wolf und Goldschakal – in West- und Mitteleuropa und somit auch auf unseren Almen auf dem Vormarsch. Daß diese Entwicklung für die Almbetreiber ein immer größeres Problem darstellt, ist dem Umstand geschuldet, daß der Schutzstatus von Bären und Wölfen unumstößlich ist. Bär und Wolf breiten sich seit ihrer Unterschutzstellung und Wiederansiedlung ungehindert aus, da sie ja keine natürlichen Feinde haben. Daß somit der Status „gefährdete Tierart“ längst schon obsolet ist, zeigen die jährlich europaweit steigenden Zahlen: Die Anzahl der Wölfe wächst im Alpenraum pro Jahr um 30 Prozent, somit verdoppelt sich deren Anzahl etwa alle 2,5 Jahre!

Die europäische Politik steht gegenüber der Landwirtschaft in der Bringschuld und hat in dieser Hinsicht während der letzten Jahre kläglich versagt. Anscheinend reichen einige wenige Schreihälse aus, um in dieser Angelegenheit alles zum Stillstand zu bringen. Wehe dem, der einem Wolf, der dutzende Nutztiere reißt, die teils noch leben, aber nicht mehr überlebensfähig sind, auch nur ein Haar krümmt – er wird schlimmer behandelt als ein Schwerverbrecher. Dabei stellt sich mir dann doch die Frage: Wo bleibt der Tierschutz gegenüber unseren Nutztieren, wenn man die vielen Bilder von halb totgebissenen Tieren sieht und diese Dramen fast täglich erlebt?

Unrealistische Herdenschutzmaßnahmen

Die hochgepriesenen Herdenschutzmaßnahmen wie Schutzzäune, Herdenschutzhunde und eine Behirtung sind bei uns in Südtirol fast nicht oder überhaupt nicht umsetzbar. Alle Almgebiete Südtirols befinden sich in Wandergebieten, durch die zahlreiche Wanderwege führen, zudem erstrecken sich die Almen über eine Fläche von hunderten Hektar, in teils unwegsamem Gelände zwischen Fels und Wald, wodurch der Einsatz von Herdenschutzzäunen schier unmöglich ist, da auch die Kosten für die kilometerlangen Zäune nicht zu stemmen sind. Schutzhunde wiederum verteidigen ihre Herde nicht nur gegen Großraubwild, sondern auch gegen jeden anderen Eindringling, der sich zu nahe heranwagt – und damit auch gegen Wanderer. Und kein Hirte wird 24 Stunden am Tag bei der Herde sein, da dies einfach nicht möglich ist. Bei all dem spielen selbstverständlich auch die erheblichen Kosten der genannten Maßnahmen eine große Rolle.

Natürlich klingt es gut, daß jedes Lebewesen ein Recht auf Leben habe, allerdings muß doch festgehalten werden, daß jedes Wildtier, und im speziellen Großraubwild, unreguliert eine Plage und Gefahr darstellt – nicht nur für unsere Almtiere, sondern auch für uns Menschen. Dafür gibt es Beispiele im Überfluß. Daß unsere Almen, unser Wohnraum, für Raubtiere nicht geeignet sind, ergibt sich daraus, daß unser Land zu dicht besiedelt sowie ein touristisches Land ist, in dem der Tourismus als Wirtschaftsmotor gesehen wird. Da ist es nicht zielführend, wenn Stimmen laut werden, wonach das Urlauben in diesem Land gefährlich sei!

Almerschließungen – Traditionalisten gegen Praktiker

Zu hitzigen Diskussionen führen auch die notwendigen Erschließungen von Almen, die durch Zufahrtswege besser erreichbar werden, da wiederum einige wenige der Meinung sind, die Bewirtschaftung der Almen müsse heute noch so erfolgen wie vor hundert Jahren. Die Erreichbarkeit der einzelnen Almen über einen Fahrweg ist für den Almbesitzer aber unerläßlich geworden, da es nicht mehr zeitgemäß ist, eine Bewirtschaftung ohne Zufahrtsstraße vorzunehmen. Die Zeiten, wo die Tiere zu Fuß über die Landes- bzw. Staatsstraßen auf die Alm aufgetrieben wurden, sind vorbei, auch weil dies schon rein rechtlich gesehen nicht mehr möglich ist.

Die Medalgesalm und die Zukunft

Wir sind eine von diesen klein strukturierten Almen mit Viehbewirtschaftung – zehn bis zwölf Rinder, ein halbes Dutzend Ziegen, zwei Katzen und ein Hund –, und zudem führen wir seit nunmehr zwanzig Jahren einen kleinen familiären Almausschank. Uns ist es wichtig, den Gästen unsere kleine, feine Alm ohne Gourmetallüren vor Augen zu führen. Die Medalgesalm liegt auf 2.293 Metern Höhe und ist seit zwanzig Jahren mit einer Forststraße für uns Besitzer erschlossen.

Die Gesamtsituation zehrt hart an der Überzeugung unserer Bauern, die Almwirtschaft am Leben zu erhalten und bringt immer mehr von ihnen dazu aufzuhören; die meisten von ihnen arbeiten nämlich als Nebenerwerbsbauern, da ihre Betriebe nur klein sind. Trotzdem bin ich überzeugt, daß die Almwirtschaft, mit allem Guten und Schlechten, mit ihren Widrigkeiten und Hürden, noch eine Zukunft habe – in welcher Form auch immer. Schließlich ist es einfach schön, in einer gepflegten Landschaft zu leben und selbst seinen Teil dazu beitragen zu können, daß dies auch so bleibt!

Über den Autor:
Heinrich Seyr, Jahrgang 1966, bewirtschaftet mit seiner Frau Sandra und den beiden gemeinsamen Kindern die Medalgesalm in Campill in der Südtiroler Gemeinde St. Martin in Thurn im Gadertal, das vom Pustertal abzweigt.

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