von Pirmin Meier
Der Deutschbalte Werner Bergengruen wurde mit seinem Meisterroman Der letzte Rittmeister (1952), der Geschichte eines osteuropäischen Exilanten, zum inspirierten Erzähler des Schweizer Nationalgerichts Fondue: die Zelebration des Essens von Schmelzkäse, angereichert mit Weißwein, Schnaps und Knoblauch, garantiert vitaminfrei, aus einem unter Feuer stehenden „Caquelon“, aus dem jenseits von Klassenschranken, Geschlechtertrennung und Nationalitäten gemeinschaftlich getafelt wird.
Käserverschwörung am Rütli
In diesem Sinn und Geiste wurde die Gründung der Eidgenossenschaft auch schon – so vom Ex-Missionar, Volkskundler und Ernährungshistoriker Al Imfeld (1935-2017) – als „Käserverschwörung“ interpretiert. Deren legendärer Schauplatz, das Rütli über dem Vierwaldstättersee, wurde in diesem Sinne von einem einstigen Bundespräsidenten der Volkspartei, nicht einmal abschätzig gemeint, als „Wiese mit Kuhdreck“ bezeichnet, von Friedrich Schiller freilich pathetisch überhöht zu einem neutralen Freiplatz, d.h. einer Stätte herrschaftsfreier Immunität in einem Grenzgebiet, wo sich, bei Abwesenheit des anarchischen Tyrannenmörders Tell, die Freiheitskämpfer der Orte Uri, Schwyz und Unterwalden getroffen haben sollen.
Die Vorstellung einer solchen Alpstätte ist zur Zeit des Bauernkrieges und der Glaubensspaltung sogar in die Bibelübersetzung von Zürichs Reformator Ulrich Zwingli eingegangen, zum Mißvergnügen von dessen Wittenberger Konkurrenten Martin Luther. Beim Religionsgespräch von 1529 prallten schweizerische und deutsche Mentalität unversöhnlich aufeinander. Dies galt sowohl sprachlich als auch inhaltlich. Zwar bemühten sich sowohl Zwingli als auch Luther, die Bibel so zu übersetzen, daß sowohl für den „gemeinen Mann auf der Strassen“ wie auch für die „Kinder auf der Gassen“ das Wort verständlich gemacht würde; in Zwinglis alpiner Heimat Toggenburg erforderte dies jedoch eine ganz andere, stärker mundartliche Formulierungskunst als bei Luther, der sich der sächsischen Kanzleisprache bediente. Immerhin gab es damals schon ein „Schweizerhochdeutsch“, zumal die Mundarten sich von Tal zu Tal unterschieden. Selbst noch an der Landsgemeinde von Unterwalden drückten sich die Nachbarn Obwalden anders aus als ihre benachbarten Miteidgenossen aus Nidwalden. Nicht nur deshalb trennten sich die beiden Talschaften in zwei Halbkantone. Im Prinzip aber unterhielt man sich auch vor Gericht je in Mundart, wohingegen an der Universität Latein Umgangssprache war, weswegen zum Beispiel 1527 Paracelsus aus Einsiedeln mit seinen deutschen Vorlesungen ein Provokateur war.
Schillers Unkenntnis der historischen Schweizer Kuhnamenpraxis
Ein Beispiel für die alpine Mentalität der Schweizer ist die gegenüber Luther abweichende volkssprachliche Wiedergabe des viel gesungenen und viel gebeteten Psalms 23, gemäß Lutherbibel „Er weidet mich auf einer grünen Auen und führet mich zum frischen Wasser“. Bei Zwingli hieß es noch 1529 beim Marburger Religionsgespräch „Auf grüener Weyde alpet er mich“. Der Gläubige als fröhlich „gealpetes“ Schaf oder Rind! Wenn Schiller indes im Prolog zu Wilhelm Tell die Kuh vorstellt mit „Die braune Liesel kenn ich am Geläut“, liegt Unkenntnis der historischen Schweizer Kuhnamenpraxis vor, bei der eine Benennung nach der heiligen Elisabeth als blasphemisch unmöglich in Frage gekommen wäre.
Nebst Werner Bergengruen zeigte sich unter den deutschsprachigen christlich-konservativen Autoren der noch „abendländisch“ orientierten Nachkriegszeit Reinhold Schneider in seinem grandiosen Spätwerk Winter in Wien (1958) von der neutralen Schweiz angetan. Er zeigte sich von den Eidgenossen umso mehr berührt, insofern er als einstiger Monarchist und nachmaliger Kritiker der NATO-Doktrin der Gesinnungsfreunde Dulles und Adenauer seine noch 1932 engagiert vertretenen Hoffnungen auf die Wiedererrichtung der Krone in Deutschland und Österreich aufgegeben hatte. Dem Versuch der Rettung Europas vor dem Kommunismus durch wirtschaftliche und militärische Großzusammenschlüsse stand der Biograph mehrerer europäischer Königshäuser skeptisch gegenüber: „Wir leben in einer Zeit der Zusammenschlüsse und haben alle Aussichten, daß wir unsere Namen verlieren und Euratom werden. (…) Nichts gegen ein europäisches Gemeinschaftsbewußtsein, sofern eben Europa noch da ist. Eine große Gefahr ist, daß wir mehr und mehr von Abstraktionen beherrscht werden, den Hülsen und Häuten der Werte, die einst das Gleichgewicht bestimmt haben. (…) Wie wird in den Bundesbriefen der Schweiz, noch unter kaiserlichem Schutz, Freiheit ohne Pathos und Ideologie begründet, allein aus der geschichtlichen Begebenheit. Die Bundesbriefe zu Schwyz sind nüchtern wie Steine und darum unverrückbares Fundament.“
Karge Gebirgsregionen geeigneter zur Entwicklung von Republiken
Angesprochen wurden bei den Schweizfreunden Reinhold Schneider und Werner Bergengruen die Bergregionen, wie sie in Österreich Adalbert Stifter teilweise ähnlich gesehen hatte. Historisch sind Bergregionen gemäß Montesquieu im Vergleich zu großen Flächenstaaten auf Kleinräumigkeit und Abgrenzungen erpicht und deswegen dem Despotismus zentralistisch orientierter Herrscher abgeneigt. „Das kargere Land“, schrieb der Franzose, „ist der Entwicklung von Republiken förderlicher. Die Güte des Bodens führt deshalb naturgemäß zur Abhängigkeit. (…) Die fruchtbaren Länder sind Ebenen, auf denen man sich dem Stärkeren gegenüber nicht leicht behaupten kann. In den Gebirgsgegenden aber kann man erhalten, was man errungen hat. So herrscht die Freiheit mehr in den gebirgigen und ärmeren Gegenden als in denen, die von der Natur stärker begünstigt erscheinen.“ Dieser Befund läßt sich, selbst unter Monarchen wie den frühen Habsburgern, etwa dem populären König Rudolf, den Wittelsbachern und den Luxemburgern, durch das Beispiel der Walsersiedlungen mit den entsprechenden Gemeindeprivilegien belegen. Diese waren repräsentativ für kommunale Entwicklungen nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Schwarzwald und im italienischen Gotthardgebiet. Dasselbe gilt für Küstenvölker wie die Korsen, für welche Rousseau noch im Geburtsjahr Napoleons (1769) eine konsequent föderalistische Verfassung ohne Hauptstadt entworfen hat, eine Art mediterranes Appenzell. Der Cäsar der Franzosen kam noch 1802 zur Erkenntnis, daß die Schweiz mit ihren Traditionen der gemeindlichen Selbstbestimmung nur föderalistisch regiert werden könne, was damals außenpolitische, monarchisch orientierte Abhängigkeit nicht ausschloß.
Für den „Vorderösterreicher“ Reinhold Schneider, Kritiker von Adenauer und auch des Zusammenschlusses Badens mit Württemberg, waren nach der schmerzlichen Erfahrung der politischen Großmannssucht „die sogenannten kleinen Nationen, die Geschichte passiert haben, die stärksten und reinsten im Geiste, im Ausdruck.“ Ein Beispiel, wie die sogenannte Willensnation Schweiz gerne von außen überschätzt wurde, was ihrem eigenen inneren Selbstbild indes stets schmeichelte.
Alpine vorrevolutionäre Demokratie als Gemeinschaft „derjenigen, die dazu gehören“
Dabei kennt man hierzulande, wie der jüngst verstorbene populäre Autor Peter Bichsel vielfach beklagte, die eigene Geistesgeschichte kaum, weil man mit sich selbst allzu sehr im Reinen zu sein glaubt. Man pflegt Klischeevorstellungen von Zürichs Reformator Zwingli, der keineswegs ein Puritaner war, oder Pestalozzi, den angeblichen Begründer der Gutmenschenpädagogik, in Deutschland von Fichte indes anstelle von „Volksbildung“ zum Vater einer „Nationalerziehung“ fehlinterpretiert. Dies entsprach freilich nicht den Vorstellungen des Österreichers Adalbert Stifter, so in der Meistererzählung Kalkstein. Dabei verhehlt Stifter so wenig wie die Schweizer Klassiker des poetischen Realismus’, Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf, die bornierten Seiten des auf Eigenfreiheit erpichten Partikularismus’ des Wald- und Bergvolkes. Die alpine vorrevolutionäre Demokratie verstand sich jenseits allgemeiner Gleichheit als eine Gemeinschaft „derjenigen, die dazu gehören“, d.h. von solchen, die ihre Art des selbstbestimmenden Zusammenlebens hartnäckig erringen mußten. Am Beispiel des Kantons Glarus, ursprünglich Leibeigene des Stiftes Säckingen, läßt sich belegen, daß die ursprünglichen Dorfgemeinden wie die Landsgemeinde als Versammlung der waffenfähigen Männer ab 14 Jahren ursprünglich eher Pflichtgemeinschaften von Leibeigenen waren, die unter sich ihre je spezifischen Aufgaben für die Gemeinschaft abzumachen hatten. In diesem Sinne wurden zum Beispiel der Schafhirt, der Geißhirt, der Schweinehirt, der Wegknecht, der Dorfmauser, später auch der Lehrer und der Dorfkaplan unter der Linde ebenso „demokratisch“ gewählt wie Ammann, Ratsherren und dank Bemühungen Zwinglis sogar der Dorfpfarrer; letzteres gemäß einer lange mißverstandenen Urkunde von Papst Julius II. vom 8. Januar 1513. Ein Beispiel, wie die Eidgenossenschaft auch in kirchlicher Hinsicht schon vor 500 Jahren auf ihrem Sonderfall beharrte…