von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (52)
Er war in seiner Zeit eine moralische Instanz sondergleichen, und viele vereinnahmten den Weltverbesserer, der er im positiven Sinne des Wortes war, allzu gerne für sich. Auch die einstige DDR verfuhr so und verwandelte Albert Schweitzer in einen Streiter gegen „imperialistische Ausbeutung und Unterdrückung“. Doch das Wesen des so „Geehrten“ war ein anderes.
Vor nunmehr 150 Jahren, am 14. Januar 1875, in Kaysersberg im Elsaß als Sohn eines Pfarrers geboren erlernte Albert Schweitzer erst in der Schule Hochdeutsch. Dies verwundert kaum, da das Elsaß gerade erst vier Jahre zuvor nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 an das Deutsche Reich gekommen war.
Studium und Laufbahn als Wissenschaftler
Im Anschluß an das Abitur 1893 begann Schweitzer noch im selben Jahr in Straßburg mit dem Studium der Theologie und Philosophie. Er, der sich Pfingsten 1896 dafür entschieden hatte, in seinem späteren Beruf Menschen zu dienen, wurde 1899 zum Doktor der Philosophie promoviert, zwei Jahre darauf zum Doktor der Theologie. Aber auch zwei akademische Grade schienen dem gläubigen und fleißigen jungen Mann nicht genug zu sein, und so habilitierte er sich 1902 als Theologe und nahm 1905 das Studium der Medizin auf. Dabei leitete ihn der feste Vorsatz, im Urwald als Arzt zu wirken. 1913 wurde Schweitzer in der Tat zum Doktor der Medizin promoviert.
Neben alldem widmete er sich intensiv der Orgelmusik, insbesondere dem Werk Johann Sebastian Bachs, wie auch dem Orgelbau. Zeit seines Lebens gab er, der das Orgelspiel schon als Kind erlernt hatte, in Europa viele Konzerte. Dazu verfaßte er auch noch Bücher über die Musik Bachs.
Erster Aufenthalt in Afrika und das Krankenhaus Lambarene
Mit seiner Gattin Helene, die er 1912 geehelicht hatte, verließ Schweitzer im Jahr 1913 Europa in Richtung des afrikanischen Gabuns. 1914 wurden er und seine Frau nach Beginn des Ersten Weltkrieges von französischen Kolonialtruppen unter Hausarrest gestellt, bevor sie gegen Ende des Krieges sogar festgenommen und auf das französische Festland gebracht wurden. Dort blieben sie bis zum Kriegsende an der Mittelmeerküste interniert. In dieser Zeit entwickelte Schweitzer zentrale Elemente seiner Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“.
Nach Ende des Ersten Weltkrieges gingen Schweitzer und seine Frau ins Elsaß zurück, das nun wieder zu Frankreich gehörte. Jetzt erhielt er auch die französische Staatsbürgerschaft und fand in Straßburg erneut Anstellung. In den 1920er-Jahren wurde er durch seine Schriften und Vorträge einem breiten Publikum bekannt. An dem Urwaldhospital in Lambarene hielt er fest, blieb aber trotzdem mit Europa verbunden.
Friedensnobelpreisträger und moralische Instanz
Albert Schweitzers Wirkung geht weit über Theologie, Kirchenmusik, Publizistik und Medizin hinaus. Als er 1952 für seinen Einsatz gegen das atomare Wettrüsten den Friedensnobelpreis erhielt, rückte er erneut in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit und mit ihm auch seine Lehre von der „Ehrfurcht vor dem Leben“. Dergestalt wurde Albert Schweitzer in den 1950er-Jahren zu einer moralischen Instanz, zu einer Leitfigur im Kampf gegen die atomare Bewaffnung der Staaten. Durch seine theologisch-philosophischen Studien, aber auch durch seine persönlichen Erfahrungen als Elsässer und „Weltbürger“, wie er sich selbst nannte, „beseelt“, mischte er sich auch von Lambarene aus in das Geschehen ein, wenn er die Welt am Rande eines Kriegs sah.
Auch wenn ein System wie etwa jenes der DDR, das in seiner Gesamtheit so gar nicht zu dessen Lebenswerk und Lehren paßte, Albert Schweitzer vereinnahmen wollte, so ist dieser doch nach wie vor Vorbild und moralische Instanz. Sein Humanismus und Pazifismus ließen sich nicht für den Gebrauch in einem solchen totalitären System zurechtbiegen oder gar als Legitimation für selbiges heranziehen. Ließe sich das gewiß höchst eigennützige Werben etwa der DDR und auch vieler anderer Staaten um die Person Schweitzers als eine Verbeugung vor seinen Lehren auffassen, so hätte Albert Schweitzer als Kosmopolit – denn ein solcher war er – auf der Welt etwas zum Positiven hin verändert. Doch er war auch Pragmatiker, und als dieser mußte er die Finanzierung eines Krankenhauses in Afrika einzig durch Spenden sichern. Da er politisch gut informiert war, wußte Schweitzer bestens darüber Bescheid, was sich in der DDR abspielte. Aber er sagte: „Ich rede mit jedem, der Interesse an meinem Werk hat.“ Er starb am 4. September 1965 in Lambarene.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.