von Hermann Attinghaus
Bei näherer, unvoreingenommener Betrachtung ist die bei Linken und anderen politisch korrekten Zeitgenossen umstrittene Agnes Miegel viel moderner, als die haßerfüllten, selbsternannten Hüter der Demokratie wahrhaben wollen. Die große Dichterin paßt so wenig in die Gegenwart wie zu der Blut-und-Boden-Ideologie des NS-Regimes. Allein durch die frühzeitige Ablehnung von Ehe und Mutterschaft wie auch durch die Hinwendung zum eigenen Geschlecht war sie – ungeachtet vieler Ehrungen im Dritten Reich – eine Außenseiterin und Einzelgängerin, damals wie heute.
Den Irrtum, im „Führer“ den lange erhofften deutschen Messias gefunden zu haben, teilte sie mit Millionen anderer Menschen, durchaus nicht nur mit Deutschen. Analysiert man die immer wieder inkriminierten Gedichte auf den „Führer“, wird man rasch den grundlegenden Unterschied zu den Erzeugnissen Baldur von Schirachs oder Heinrich Anackers erkennen. „Ich traue auf Gott und den Führer, nicht so kindlich und bequem, wie viele es tun, sondern so, wie man als Deutscher und Ostgermane seinem Schicksal vertraut.“ Dieses Vertrauen auf den Führer hat sich nur zu bald als ein grundlegender Irrtum herausgestellt. Das Vertrauen auf Gott blieb.
„Mutter Ostpreußens“ mit Salzburger Wurzeln und dem „zweiten Gesicht“
Die oftmals als „Mutter Ostpreußens“ bezeichnete Dichterin Agnes Miegel wurde am 9. März 1879 in Königsberg geboren. Der Vater Gustav Adolf Miegel entstammte einer Kaufmannsfamilie, die seit mehreren Generationen in Königsberg und Umgebung ansässig war. Mütterlicherseits stammt die Dichterin von Salzburger Protestanten ab, die vom Oberhofgut in Filzmoos im Pongau kamen. Im Zuge der Gegenreformation wurden sie im Jahre 1731 vertrieben. Agnes blieb das einzige Kind. Zwar schildert sie ihre frühe Jugend stets als heiter und harmonisch, aber aus dem erheblichen Altersunterschied der Eltern und der labilen Gesundheit der Mutter haben sich zwangsläufig Konflikte ergeben. Das Leben im gutbürgerlichen Hause Miegel war von bescheidenem Wohlstand und preußischer Lebensart geprägt. Die Tochter erhielt schon früh viele geistige Anregungen durch Vorlesen, anspruchsvolle Lektüre und Erzählungen des Vaters über Königsberg und die preußische Geschichte.
Der erste schwere Schicksalsschlag trifft das Kind, noch ehe es zur Schule geht: Ein Onkel, der Bruder der Mutter, bringt sich um. Dadurch verschlimmert sich der Gemütszustand der Mutter dramatisch, und auch der Vater ist tief betroffen. Zum ersten Mal wird Agnes Miegel mit dem Tod und einer beängstigenden Atmosphäre konfrontiert, ihr Hang zum Unerklärlichen und Geheimnisvollen tritt verstärkt hervor. Von ihrem Urgroßvater väterlicherseits hat sie offenbar die Gabe des „zweiten Gesichtes“ geerbt. Tatsächlich hat Agnes Miegel die Zerstörung Königsbergs durch britische Bomber im August 1944 und die Verwüstung Ostpreußens durch die Rote Armee vorhergesehen. Diese außerordentliche Begabung beunruhigt das Kind in keiner Weise, erklärt aber die Bedeutung des Gespenstischen und Magischen in Miegels Werk.
Nach der privaten Grundschule und der Höheren Mädchenschule in Königsberg kommt Agnes Miegel in eine Pension in Weimar, wo ihre Bildung fortgeführt wird. Die Zeit in Thüringen – gekennzeichnet von einem reichen kulturellen Leben mit Theater- und Konzertbesuchen – ist einer der glücklichsten Abschnitte ihres Lebens: Hier spürt sie noch den Geist der Klassiker Goethe und Schiller, hier entstehen ihre ersten Gedichte und führt sie ein Tagebuch.
Daheim in Königsberg wird 1896 ihre erste Ballade gedruckt, für die sie zwei Goldstücke als Honorar erhält. Im Frühjahr 1898 verbringt sie drei Monate in Paris, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Anschließend macht sie in Berlin eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester, übt aber den Beruf nie aus, denn dazu ist ihre Gesundheit nicht stark genug. Mit einer Freundin geht sie im Herbst 1902 nach England, wo sie bis April 1904 in der Clifton High School in Bristol junge Engländerinnen betreut. Dieser Aufenthalt begründet ihre enge Beziehung zur englischen Geschichte und Landschaft. Dann wechselt sie nach Berlin, um Lehrerin zu werden, muß aber die Ausbildung abbrechen, weil sie den Anstrengungen nicht gewachsen ist. Miegel hat erste Erfolge als Dichterin. Auf Vorschlag Börries von Münchhausens, mit dem sie eine vorübergehende Liebesbeziehung eingeht, erscheint 1901 ihr erster Gedichtband. Aus einer Begegnung mit Lulu von Strauß und Torney, die den Verleger Diederichs heiratet, wird eine lebenslange Freundschaft. In seinem Verlag erscheint ihr zweiter Gedichtband.
Im Oktober 1906 ändert sich ihr Leben grundlegend: Sie muß zurück zur Familie, da sich der Zustand der Mutter dramatisch verschlechtert hat und überdies ihr Vater erblindet. Während der nächsten zehn Jahre bis zum Tod des Vaters 1917 schreibt sie nur wenige Gedichte, liest aber viel, um sich weiterzubilden. Angeregt durch die Erzählungen des Vaters wird sie zur überzeugten Ostpreußin, was deutliche Spuren in ihrem Werk hinterläßt.
Nach dem Ersten Weltkrieg steht Agnes Miegel vor dem Nichts. Sie hat keinen Beruf, kein Einkommen, kein Vermögen, aber Freunde vermitteln ihr einen Posten bei einer Zeitung. In den kommenden Jahren schreibt sie hunderte Artikel zu verschiedensten Themen, 1926 dann ihre legendären Geschichten aus Alt-Preußen, die sie als Schriftstellerin bekannt machen. Seit ihrem 50. Geburtstag 1929 erhält sie von der Provinz Ostpreußen einen Ehrensold. Schon 1916 hatte sie gemeinsam mit dem Arbeiterdichter Heinrich Lersch den Kleist-Preis bekommen. Bei der Königsberger Kant-Feier 1924 wird ihr das Ehrendoktorat verliehen, 1932 erhält sie die Goethe-Medaille von Präsident Hindenburg. Sie wird also schon lange vor der NS-Machtübernahme gebührend geehrt und erhält auch nach Kriegsende den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 1962 den Westpreußischen Kulturpreis. 1961 besucht sie sogar der Berliner Bürgermeister Willy Brandt. Daß sie während der NS-Zeit vereinnahmt und geehrt wurde und daher auch manchen Gefälligkeitstext abliefern mußte, wird ihr heute besonders angekreidet.
Im Februar 1945 flieht Agnes Miegel über die Ostsee nach Dänemark, wo sie bis November 1946 im Lager Oksbøl interniert wird, ehe sie nach Deutschland zurückkehren darf. Von Mai 1948 bis zu ihrem Tod am 26. Oktober 1964 wohnt sie in Bad Nenndorf in Niedersachsen. An ihrem Begräbnis nehmen unzählige Trauergäste, darunter auch etliche Vertreter der Ministerien, der Verbände, von Schulen und Universitäten teil.



Bei der Hetzjagd auf die bedeutendste Dichterin Ostpreußens geht es nur vordergründig um tatsächliche oder auch nur behauptete Verstrickungen der Poetin in das NS-Regime.
Sie war keine Parteigenossin der ersten Stunde, trat erst 1940 der Partei bei. In ihrem Werk finden sich jedenfalls keinerlei antisemitische, rassistische oder sonstige nationalsozialistische Passagen. Ja, sie hat einige nicht sehr bedeutende Gedichte auf den „Führer“ geschrieben, die freilich, wie schon oben angedeutet, ganz anderer Art sind, als die der „Sänger der Bewegung“. Das sind keine oberflächlichen Huldigungen einer Verblendeten, sie sind vielmehr der Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung wider besseres Wissen, daß Deutschland doch noch gerettet werden könne. Ihr „zweites Gesicht“ hat ihr lange vor Hitlers Machtergreifung gezeigt, daß der Weltenbrand in absehbarer Zeit kommen müsse und daß niemand imstande sein würde, ihn zu verhindern. Der Gang der Geschichte schien – kurzfristig – ihrer Vision zuwider zu laufen.
Agnes Miegel ist freilich nicht das einzige Opfer der politisch korrekten Hetzjagd auf nichtlinke Künstlerinnen und Künstler in den vergangenen Jahren. Darin spiegelt sich auch die Veränderung in der politischen Landschaft der Bundesrepublik und der Alpenrepublik. Künstler und Wissenschaftler, die das Andenken an den deutschen Osten bewahren, werden auch Jahrzehnte nach ihrem Tod noch verfemt, nicht zuletzt, weil sie damit das Konzept der Umerziehung unterlaufen.
Agnes Miegel hat seit dem Tod des Vaters 1917 bis ins hohe Alter zahlreiche Werke verfaßt. Neben vielen Gedichten hat sie auch etliche Prosatexte hinterlassen, in denen sie immer wieder Themen aus der preußischen Geschichte behandelt. Objektiv betrachtet bleibt sie als die bedeutendste deutsche Dichterin des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, die konsequent wie keine andere das Schicksal von Frauen in den Mittelpunkt ihres Schaffens gestellt hat.