Holzschnitt mit Nürnberger Stadtansicht aus der Schedelschen Weltchronik von 1493, Michael Wolgemut und Wilhelm Pleydenwurff

Der Herbst des Mittelalters in deutschen Städten

von Julian Bauer

Während man in Südeuropa von der Frührenaissance spricht, nennt man für die Lande nördlich der Alpen dieselbe Epoche landläufig auch schlicht „spätes Mittelalter“. Der Grund für diese Marginalisierung soll darin liegen, daß die großen Marksteine der Geschichte der Deutschen eher davor oder danach liegen und die Jahrhunderte dazwischen grundsätzlich als Verfallszeit gelten. Das mag für den Bereich der Literaturgeschichte vielleicht zutreffen, tatsächlich aber dürfte der wahre Grund für die stiefmütterliche Behandlung des Spätmittelalters in der Praxis des Wissenschaftsbetriebes zu finden sein: Mit Einsetzen der verstärkten Schriftlichkeit in Verwaltung und Wirtschaft explodiert die Fülle des Quellenmaterials geradezu – man spricht daher auch von „Massenschriftgut“. Die Beschäftigung mit diesen Bergen an oftmals auch nicht mehr besonders leserfreundlich verfaßten Handschriften ist für den Forscher zuallererst unattraktiv. Auf diese Weise aber tut man der deutschen Geschichte Unrecht.

Der radikale Niedergang des Städtewesens fand im Heiligen Römischen Reich erst in der Frühen Neuzeit statt.

Davor, bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, wurden die deutschen Städte von Zeitgenossen noch nahezu überschwenglich als „glänzend“ gelobt – so der spätere Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini. Die städtische Wachstumsphase ebbte erst ab 1500 ab, nachdem es im späten Mittelalter mit über 200 pro Jahrzehnt eine regelrechte Welle von Städtegründungen gegeben hatte. Obgleich noch lange Zeit die große Mehrheit des Volkes als Bauern auf dem Land lebte, gab es im mittelalterlichen Deutschen Reich rund 4.000 Städte. Eine große Rolle in der historischen Lebenswirklichkeit der meisten Deutschen spielten diese aber dennoch nicht; das liegt daran, daß insgesamt gerade einmal 25 Städte im römisch-deutschen Reich über 10.000 und damit oft weniger Einwohner zählten als heute zum Beispiel Ried im Innkreis. Von diesen „Großstädten“ hatten lediglich Lübeck, Danzig, Magdeburg, Nürnberg, Prag, Straßburg und Augsburg über 20.000 Einwohner. So bedeutende Städte wie Berlin, Hamburg, Aachen oder Dresden spielten damals hingegen keine große Rolle.

Im Vergleich zum heutigen „Städter“ war der mittelalterliche Mensch auch wirtschaftlich noch wesentlich stärker der Natur ausgesetzt.

So sind wiederkehrende Wetterkatastrophen und große Klimaschwankungen kein Phänomen, das in Deutschland erst nach der Industrialisierung aufgetaucht wäre, wie man uns heute weiszumachen versucht: Die historische Klimaforschung hat für das Mittelalter bis etwa 1300 eine markante „Warmzeit“ feststellen können mit einer schier endlosen Zahl an Überschwemmungen bzw. extremen Dürren. Und obgleich es danach grundsätzlich abkühlte, wird beispielsweise von einer extremen Hitze im Sommer des Jahres 1401 im Wiener Umland berichtet. Solche Wetterkapriolen erschienen dem Chronisten erwähnenswert, war doch davon das Leben der einzelnen Menschen in ihrer wirtschaftlichen Basis direkt betroffen. Vor allem der für Wien so wichtige Weinbau im besonders fruchtbaren Umland Richtung Südosten war dadurch gefährdet.

Ausfälle in der Weinproduktion muten heute nicht existenzbedrohend an – ganz anders im Mittelalter mit seinen Trinkgewohnheiten.

Das Wasser in der Stadt war in der Regel verunreinigt und wurde daher eher gemieden. Heute noch kursieren markige Sprüche, die der damaligen Lebensrealität entspringen, wie, daß man sich mit Wasser höchstens in den städtischen Badehäusern wasche, es aber nicht trinke. Da Bier im Mittelalter in Süddeutschland nur geringe Bedeutung hatte, müssen wir einen erstaunlich hohen Weinkonsum für die Stadtbürger annehmen. Tatsächlich gehen Berechnungen für das Spätmittelalter von durchschnittlich etwa 1,3 Litern Wein pro Kopf und Tag aus. Während heute eher leichte, trockene Weine bevorzugt werden, wurden damals in der Oberschicht vorwiegend schwere und süße Weine aus dem Ausland getrunken, wie Raifal, Traminer oder Malvasier. Die hohe Bedeutung des Weins für Wien spiegelt sich im übrigen in den zahllosen Weinkellern wider, deren Überbleibsel heute bekanntlich noch nahezu die gesamte Stadt unterhöhlen.

Die Verunreinigung des Wassers hing eng mit der in einer spätmittelalterlichen Stadt vorherrschenden katastrophalen Hygiene zusammen.

Ein Charakteristikum des mittelalterlichen Wiener Hauses war beispielsweise, daß sich die Toiletten, die „Abtritte“ oder „Privets“, meist im Hinterhof der Wohnhäuser befanden, und zwar in unmittelbarer Nähe des Brunnens, aus dem man das Grundwasser schöpfte. In Nürnberg, Magdeburg und Hildesheim existierten hingegen durchaus öffentliche Toilettenanlagen. Unrat, Schmutz oder gar Gerbwasser wurden zudem oft einfach auf der Straße entsorgt, nicht nur in den zahlreichen Senkgruben, sondern in offen mitten durch die Stadt verlaufenden Abwasserrinnen. Wie viele dieser geruchsbelästigenden „Moiren“ existierten, läßt sich höchstens schätzen, es dürften jedoch einige gewesen sein, bedenkt man die damals noch große Anzahl an kleinen, sich durch die Stadt ziehenden Flüssen und Bächen, in welche diese Gerinne wohl führen mußten. Die Wehrgasse in der Vorstadt Margareten erhielt zum Beispiel ihren Namen durch das bereits im Mittelalter angelegte Wehr, das den Wasserzufluß des Wienflusses in den am rechten Ufer abzweigenden Mühlbach regulierte.
Die Gassen Wiens waren zu großen Teilen noch bis ins 19. Jahrhundert ungepflastert, auf ihnen liefen zahllose Hunde und Schweine frei herum und dementsprechend auch Ungeziefer und Ratten. Gesäubert wurden die Straßen Wiens nur zwei Mal im Jahr, im Frühling und im Herbst. Der Gestank auf den Straßen und Plätzen – wo sich auf den Märkten das wirtschaftliche Leben abspielte – muß ungeheuer gewesen sein; dies lädt dazu ein, den Blick von draußen nach drinnen zu richten.

Bis zum Spätmittelalter wird man in einer deutschen Stadt dabei jedoch recht wenig hat erkennen können, waren Glasfenster doch vielerorts nicht die Norm, sondern sehr dünn gegerbte Lederhäute. Hausnummern sind ebenfalls noch lange nicht zu finden, die Häuser trugen oft eigene „Namen“; seinen Wohnort gab man mithilfe von Straßennamen und den Namen benachbarter Häuser an.

Im Haus selbst befand man sich in einem rechtlich besonders geschützten Raum, der vor obrigkeitlicher Kontrolle und Eingriffen frei blieb – ein juristisches Relikt aus germanischer Zeit.

Eine weitere beachtliche historische Kontinuität aus dem Germanischen ist der Aspekt des „ganzen Hauses“: Das Haus war als Rechts-, Wirtschafts- und Wohneinheit Lebensbereich und Arbeitsstätte zugleich und wurde von Eltern und ihren Kindern wie von den Knechten, Mägden und Lehrlingen gemeinsam bewohnt. Handwerker verkauften ihre Produkte im Erdgeschoß ihrer Häuser; die Wohnräume, so die meist als einziger Raum beheizte Stube, befanden sich im Stock darüber, jene des Gesindes im Hof.

Als eine kunstgeschichtlich herausragende Besonderheit des Deutschen wird gemeinhin der kunstvoll geschnitzte Flügelaltar der spätgotischen Kirchen genannt. Tatsächlich spielten jene Altäre gerade im Spätmittelalter eine besondere Rolle. Bis zur Verbreitung von Martin Luthers Schreiben trafen sich an diesen Altären, meist in den Seitenchören, unter der Woche die Bruderschaften für ihre Gebete und Andachten.

Ihre ungeheure Popularität und Anzahl machten die religiösen Bruderschaften zu einem wesentlichen gesellschaftlichen und nicht zuletzt politischen Faktor in den Städten.

In Wien war die größte und mächtigste Bruderschaft, die Fronleichnamsbruderschaft bei St. Stephan, für das so wichtige und prächtig inszenierte Fronleichnamsfest zuständig. Nicht zuletzt durch Prozessionen und Feste wie diese wuchs die Gemeinschaft der Stadtbürger zu einer Einheit und stärkte ihren Zusammenhalt nach innen. Dieses identitätsstiftende Moment erlebt heutzutage tatsächlich seinen Herbst des Verfalls.

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