von Friedrich Helbig
Es ist Ostern, die Kinder haben Ferien. Die Arbeitskollegen und einige Bekannte „posten“ Bilder vom Urlaub aus fernen Weltgegenden. Wir aber fahren nach Görlitz, in die schlesische Heimat. Die Stadt liegt auf dem 15. Längengrad, dem Bezugsmeridian der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ). Damit ist Görlitz vorgeblich die östlichste Stadt Deutschlands; sie soll in Ostsachsen oder der Oberlausitz liegen. Doch Görlitz ist und bleibt eine schlesische Stadt, und sie ist allenfalls die östlichste Stadt der BRD. Denn es gibt einen letzten kleinen Zipfel Schlesien, der trotz Oder-Neiße-Linie in deutscher Staatlichkeit verblieb, erst in der DDR, jetzt in der BRD. „In Verantwortung für Schlesien“ lautete das Motto des Schlesiertreffens von 1995 – diesem Leitsatz bleibe nicht nur ich verpflichtet. Viele Autos haben einen Schlesienaufkleber am Heck. Es gibt das Niederschlesische Kammerorchester, den Niederschlesischen Athletenklub und den Niederschlesischen Fußballverein. Jährlich findet in der Altstadt der Schlesische Tippelmarkt statt. Ein Bäckermeister aus Horka verschickt seine authentischen schlesischen Backwaren per „Online-Shop“ in die weite Welt. Schlesien lebt also in der Bürgerschaft bzw. der Zivilgesellschaft weiter!
Der Weg über 600 Kilometer Autobahn ist weit und kostet Nerven. Doch nach den Reisestrapazen erwartet mich der süße Lohn des Heimatgefühls, welches mich schmunzeln läßt und diese wohlige innere Wärme hervorruft. Wir verlassen die Autobahn an der Abfahrt Görlitz und fahren auf der Bundesstraße die letzten Kilometer; vor uns rechts die Landeskrone, unser Hausberg. Meine Mundwinkel nähern sich den Ohren, die Anspannung weicht der Zufriedenheit. Der schnellste Weg zur Oma läßt uns links abbiegen, Richtung Königshufen – der obligaten DDR-Plattenbausiedlung. Inzwischen fehlen einige Blöcke ganz, andere wurden zurückgebaut, also mehrere Stockwerke abgetragen. Ich kann nicht nachvollziehen, warum man diese unschönen Bauten erhalten will. In der architektonisch wertvolleren und historisch gewachsenen Innenstadt gibt es noch etliche Straßenzüge, wo sich sanierte und verfallene Gründerzeithäuser abwechseln. Dort ist das DDR-Prinzip „Ruinen schaffen ohne Waffen“ leider noch gut sichtbar. Wir lassen Königshufen hinter uns und erreichen die Zeppelinstraße, an deren Anfang sich rechter Hand das Rot alter Backsteingebäude zeigt – das Görlitzer Krankenhaus. Am Ende der Zeppelinstraße rumpeln wir über die Kreuzung. Hier lagen mitten in der Stadt Eisenbahngleise, welche nur überteert wurden. Sie verbanden Werk 1 und Werk 2 von „Waggonbau Görlitz“. Ich denke daran, wie ich mit meinem Roller am Nachhauseweg vom Kindergarten anhalten mußte, um die Rangierlok samt Passagierwaggons durchzulassen – alles schön im Schritttempo. Heute braucht man die Gleise nicht mehr, Werk 1 ist geschlossen; wenigstens wird in Werk 2 des einstmals größten Arbeitgebers der Stadt noch gearbeitet.
Begleitet von der Oma gehen wir nach unserer Ankunft an diesem sonnigen Ostermontag auf den Spielplatz. Dieser wurde erst vor kurzem neu angelegt, auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs, wo jetzt hinter der Backsteinfassade eine Waldorfschule zu Hause ist. Im ,,Fußballkäfig“ des Spielplatzes herrscht Hochbetrieb. Die „Spielenden“ sind allesamt nicht europäischen Typs. Auf jenem Teil des neu angelegten Areals, wo die kleineren Kinder spielen, verändert sich das Aussehen der herumtobenden und lärmenden Meute zwar, doch die Sprachen bleiben fremd – vermutlich polnisch und ukrainisch.
Gegen die heutigen Veränderungen schützen die alten Stadtbefestigungen nicht mehr.
Am nächsten Vormittag gehen wir mit Oma in die Stadt. Als erstes steuern wir den Kaisertrutz an, einen imposanten runden Koloß mit dicken Mauern, der als vorgelagerte Bastion der doppelzügigen Stadtmauer insbesondere der Verteidigung der Handelsstraße „Via Regia“ diente. Gleich dahinter erreichen wir am Eingang zum Obermarkt den Reichenbacher Turm. Er war Teil der Stadtmauer und beherbergte das westliche Stadttor. Gut erhalten steht er noch immer und hat so manches abgewehrt – doch gegen die heutigen Veränderungen kann er die Stadt nicht mehr schützen. Wir durchschreiten das ehemalige Stadttor, und vor uns erscheint der weite Obermarkt voller parkender Autos. Das Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm I. hat den Krieg nicht überstanden, es wurde 1939 eingeschmolzen. Wir überqueren den 250 Meter langen Platz, vorbei an wunderschön restaurierten alten Gebäuden. Die Cafes haben geöffnet und ihre Tische und Stühle auf den Gehweg gestellt – leider findet man den Hinweis „Draußen nur Kännchen“ nicht mehr.
Unser Weg führt uns weiter über die Verrätergasse und die Brüderstraße zum Untermarkt. Wir passieren an dessen Eingang den Schönhof – eines der ältesten Renaissancegebäude Deutschlands. Heute beheimatet es das Schlesische Museum. Es ist ein für die alte Tuchmacher- und Handelsstadt Görlitz typisches Hallenhaus. Durch die Lage an der Via Regia florierte der Fernhandel, was dem Görlitzer Bürgertum Wohlstand verschaffte. So entstanden Handelshöfe mit künstlerischem Anspruch. Die Halle reichte über alle Stockwerke des Hauses und diente als Kontor – insbesondere konnten so Stoffe aufgehängt und präsentiert werden.
Görlitz blieb vom Bombenkrieg verschont und bietet ein intaktes Stadtbild.
Zur unverfälschten Altstadt gehört auch das Rathaus gegenüber vom Schönhof. Die geschwungene Rathaustreppe liefen schon unzählige Brautpaare hinunter. An deren Anfang steht Justitia auf dem Sockel – ein Unikum, denn der Steinmetz gab ihr keine Augenbinde bei.


Wir wenden unseren Blick nach oben auf die Uhr des Rathausturmes, denn diese ist Teil einer weiteren Görlitzer Sage. Im Ziffernblatt ist der Kopf eines Stadtwächters zu sehen, der zu jeder vollen Minute seine Augen öffnet, die orange erscheinen; denn er wurde zur Strafe lebendig in den Rathausturm eingemauert, als er einen Stadtbrand verschlafen und die Bürger nicht gewarnt hatte. Das Orange seiner Augen symbolisiert das Feuer.

Am Ende des Untermarktes geht es die steile Neißestraße hinunter zum Fluß. Heute ist die Neiße ein Grenzfluß. Sie mündet in die Lebensader Schlesiens, die Oder. Daher kommt der furchtbare Begriff: „Oder-Neiße-Friedensgrenze“. Immer wenn ich am westlichen Ufer der Neiße stehe, kommt mir dieser schmerzliche Gedanke, und mein Blut gerät in Wallung. Die wiedererrichtete Altstadtbrücke benutze ich eigentlich nie. Mich zieht wenig in den östlichen Teil der Stadt. Er ist und bleibt mir fremd, auch wenn er inzwischen ebenfalls schön restaurierte alte Häuser aufweist. Aber man spricht dort nicht meine Sprache. Ich nutze lediglich die Stadtbrücke mit dem Auto, um drüben an der ersten Tankstelle Geld zu sparen sowie manchmal Zigaretten für Bekannte zu kaufen – aber dann geht es gleich wieder zurück.


Doch heute wird auch im westlichen Teil der Stadt oft polnisch gesprochen, und die Klingelschilder der Wohnhäuser sind voller polnischer Namen. Im Gesundheitsbereich arbeiten viele polnische Ärzte und Pflegekräfte. Die Zufriedenheit der Patienten steigert das nicht unbedingt, aber welche Wahl hat man, wenn man auf sie angewiesen ist? Seit dem EU-Beitritt Polens und der damit verbundenen Öffnung der Grenze setzte im Gesundheitswesen diese Tendenz ein. Eine andere war in der Kriminalitätsstatistik zu beobachten – Autos und Fahrräder verschwanden, während die Droge Crystal Meth auf den Schulhöfen auftauchte. Früher, also zu DDR-Zeiten, gab es in den Betrieben polnische Arbeitsbrigaden, ansonsten war die Grenze zum sozialistischen Bruderstaat dicht. Ein visafreier Reiseverkehr war nur zwischen 1972 und 1980 möglich. Zum einen wollte die DDR die eigene Wirtschaft schützen, da das Passieren der Grenze häufig zum Erwerb von Konsumgütern in Polen genutzt wurde. Zum anderen wollte man ein Übergreifen der Solidarność -Bewegung verhindern. Mithin blieben sich die sogenannten Brudervölker eher fremd und damit auch die durch die Neiße getrennten Stadtteile.
Doch auch zu einem anderen sogenannten Brudervolk blieb man eher auf Distanz. Nur ungefähr zwanzig Kilometer neißeabwärts gab es einen wichtigen Militärflugplatz mit reichlich stationierten sowjetischen Soldaten, inklusive dem unübersehbaren T34-Panzerdenkmal an der Zufahrtsstraße. Der Fliegerhorst in Rothenburg wurde seit 1954 vom sowjetischen Militär genutzt, bis 1990 war dort auch das Fliegerausbildungsgeschwader der Offiziersschule für Militärflieger der NVA stationiert. Wie an den anderen Standorten waren die Sowjetsoldaten auch hier stark abgeschottet; sie kamen nur wenig mit DDR-Bürgern in Kontakt. Die Gründe hierfür waren unter anderem häufige Verkehrsunfälle und Kriminalität. Andererseits halfen die Rotarmisten im Fall von offiziellen Hilfsersuchen staatlicher Stellen beim Eintreten von Naturkatastrophen oder technischen Havarien.
Damals jedenfalls gab es nur zwei Möglichkeiten in Görlitz, die Neiße zu überqueren – über den alten Viadukt mit der Deutschen Reichsbahn oder über die Stadtbrücke. Der LKW-Transitverkehr staute sich durch die ganze Stadt. Das blieb noch viele Jahre nach der sogenannten Wende so. Erst mit dem Bau der Autobahn nach Görlitz und der entsprechenden Brücke über die Neiße nördlich der Stadt änderte sich das. Es gab wieder eine durchgehende Autobahn nach Breslau – die Grenze aber blieb.