von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (66)
Bis heute werden die deutschen Heimatvertriebenen seitens linker Kräfte und seitens der meisten Staaten Osteuropas als „Revanchisten“ diffamiert, und es wird ihnen unterstellt, sie würden versuchen, mit allen Mitteln ihre verlorene Heimat zurückzuholen. Doch eine völlig andere Sprache spricht die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950, die vor 75 Jahren unterzeichnet wurde.
In Stuttgart – Bad Cannstatt von dreißig Vertretern der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet und tags darauf vor dem Stuttgarter Schloß und im ganzen Bundesgebiet verkündet gilt die Charta als Grundgesetz der deutschen Heimatvertriebenen. In ihrem Kern enthält sie einen Aufruf zum Verzicht auf Rache und Gewalt trotz des soeben erlittenen Unrechtes und ein Bekenntnis zur Schaffung eines geeinten Europas sowie zur Verständigung zwischen den Staaten, Völkern und Volksgruppen.
Doch eines wird allzu leicht übersehen: Es ist eine irreführende Zitierung der Charta, wenn deren Verzicht auf Rache und Vergeltung betont, doch immer totgeschwiegen wird, daß diese Charta in ihrem weiteren Wortlaut ebenso die Verwirklichung des Rechtes auf Heimat als eines der Grundrechte der Menschheit fordert. Wenn dieses Grundrecht auf Heimat realpolitisch für die Vertriebenen utopisch geworden ist, dann muß zumindest ihre Vertreibung aus Gedächtnis und Geschichte der Deutschen verhindert werden. Sie ist ohnehin schon zu weit fortgeschritten.
Die Charta war ihrer Zeit weit voraus und eine große moralische Leistung der Vertriebenen, die damals noch nicht wußten, wie es mit ihnen weitergehen würde. Tausende befanden sich überdies noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Es bleibt aber auch zu konstatieren: Die Vertriebenenbewegung und -politik wären 1946 bis 1948 in ganz anderen Bahnen verlaufen, wenn sie nicht von den Alliierten brüsk gestoppt worden wären. Diese Jahre ließen sich nicht mehr nachholen. Denn der Elan der ersten Jahre wurde den deutschen Heimatvertriebenen genommen und ihnen dafür landsmannschaftliche und parteipolitische Zersplitterung „beschert“. Die generelle Untersagung von Vertriebenenorganisationen endete in Deutschland erst 1948, und bereits am 9. April 1949 kam es zur Gründung des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen. Und der Bund der Vertriebenen, Dachverband der deutschen Vertriebenenverbände, wurde erst am 27. Oktober 1957 gegründet.
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.