von Benedikt Kaiser
Bodo Ramelow (Die Linke) ist ein Westdeutscher, dem im heutigen Ostdeutschland nach 1990 eine große politische Karriere gelang. Der erfolgreiche Berufsgewerkschafter war zuletzt Ministerpräsident Thüringens – als Dunkelroter regierte er einen Freistaat, dessen blaue Werte mittlerweile die 40-Prozent-Marke erreicht haben. Nun, als Ministerpräsident abgewählt, sitzt er seit Frühjahr 2025 für seine Partei im Deutschen Bundestag, gewann in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt das Direktmandat gegen einen aufstrebenden AfD-Herausforderer. Er ist über seine Partei hinaus in Teilen der thüringischen Gesellschaft beliebt, trotz seiner frappierenden Arroganz, ungeachtet seines oftmals besserwisserischen und unduldsam wirkenden Ductus.
Nun hat Bodo Ramelow gegen Ende des Sommerlochs, das diesjährig in der BRD so recht gar keines war, für mediales Aufsehen gesorgt – in West, aber vor allem in Ost. In einem Zeitungsinterview, dessen zentrale Botschaften bald überall zirkulierten, behauptete er, daß viele heutige Ostdeutsche mit nationaler Symbolik fremdeln würden. Dazu gehöre nicht nur die Fahne der BRD, Schwarz-Rot-Gold, wie sie es in der DDR auch gewesen ist, sondern auch die Nationalhymne August Heinrich von Fallerslebens. Er plädiere daher für einen Neubeginn – mit einer anderen Hymne, die nicht den Geist des Gestern atme. Das würde, so meinte er wohl, Ostdeutsche wieder dem Gemeinwesen näherbringen.
René Nehring, Chefredakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, traf einen Punkt, als er in einem kürzlich publizierten Leitartikel für sein Blatt Verwunderung darüber artikulierte, wie massiv sich Ramelow mit einem solch abwegigen Vorschlag Gehör schaffen konnte: „Dass sich praktisch alle großen Medien zu Wort melden, zeigt einmal mehr, wie wenig die zeitgenössischen Deutschen – vor allem die kulturellen Eliten unter ihnen – ihr Verhältnis zur Geschichte der eigenen Nation und zu dem Staat, in dem sie ‚gut und gerne leben‘ (Angela Merkel), geklärt haben. Ansonsten würde ein Politiker wie Ramelow für seine jüngsten Äußerungen allenfalls ein müdes Lächeln ernten.“
Doch zugleich verpaßt Nehring einen anderen Punkt: Wie andere pragmatische Liberalkonservative scheint auch er zu glauben, daß eine Gesundung der deutschen Lage voluntaristisch, mit viel gutem Willen lösbar wäre, würden alle sich nur individuell anstrengen, sich mit dem heutigen Deutschland zu identifizieren, im Osten wie im Westen. Insofern müsse man Ramelow dankbar sein, daß er dieses Thema angesprochen habe: „Jetzt fehlt nur noch, dass er und seine Genossen endlich akzeptieren, dass die breite Masse der Deutschen – wie auch die große Mehrheit der Zuwanderer – mit unserem Land, der Nationalhymne und der schwarz-rot-goldenen Flagge absolut im Reinen ist.“
Es ist nicht so, wie Ramelow meint, aber so ist es nun auch wieder nicht.
Denn Ramelow hat recht: Tatsächlich fremdeln viele im Osten der BRD mit derselbigen. Aber das tun sie nicht, wie er suggeriert, aus Mangel an Liebe zu Deutschland, sondern just aufgrund dieses Gefühls, das sich zwischen Vogtland und Ostseeküste besser konserviert hat. Wir benötigen also keine „Entdeutschung“ der Hymne, sondern eine grundsätzliche meta- und realpolitische Kehre in der deutschen Politik, die eine Identifikation und Vergemeinschaftung im Rahmen des ganzen Deutschlands, nicht nur des Ostens als Residuum des patriotischen Aufbegehrens, überhaupt erst wieder erstrebenswert erscheinen lassen.
Ein anderer westdeutscher Journalist, die ehemalige links-grüne Gallionsfigur Thomas Schmid, heute liberaler Transatlantiker wie viele seiner ehemaligen Genossen, ist ebenso wenig wie Ramelow deutscher Patriot. Der für die Axel-Springer-Tageszeitung Die Welt tätige Autor schreibt sogar: „Es geht auch ohne Hymne“. Er geht also noch weiter als Ramelow, der „nur“ eine andere ins Spiel bringt. Aber im Gegenzug zum gescheiterten Ministerpräsidenten „liest“ Schmid den durchaus speziellen „Nationalcharakter“ der Ostdeutschen besser. Schmid am 7. September (ausführlich, weil aufschlußreich):
„Die DDR war das deutschere Deutschland. Die Gesellschaft blieb traditioneller und der Wunsch nach Wiedervereinigung, also der nationale Wunsch war groß. Im Westen hörte man der Hymne eher kühlen Herzens zu – im Osten wurde sehr vielen warm ums Herz, wenn sie erklang. Sollte Ramelows Urteil stimmen, dass man im Osten heute mit dem ‚Lied der Deutschen‘ nur noch wenig anfangen könne, dann liegt das vermutlich nicht daran, dass das Lied von einer älteren Sprachtradition geprägt ist. Es liegt wohl eher daran, dass im Osten seit 1989 nach einer kurzen Phase fast altdeutscher Nationaleuphorie der deutsche Staat insgesamt für viele in Misskredit geraten ist: als eine letztlich fremde Westgründung, die dem Osten übergestülpt wurde. So wird heute im Osten vieles verworfen, was zum Kernbestand der Republik gehört. Womöglich auch die Nationalhymne. Fast könnte man sagen: Der untergründige DDR-Nationalismus, der erst nach dem Ende der DDR richtig erblüht ist, bewirkt die Distanz zum nationalen ‚Lied der Deutschen‘.“
Diese Analyse trifft deutlich eher zu als eine vermeintlich links-antinationale Haltung vieler Ostdeutschen, auf die Ramelow abzielt. Denn tatsächlich mußten viele Ostdeutsche nach dem ersten Taumel inmitten des neuen Konsumparadieses BRD, das neu aufklaffende soziale Fragen durch Produktreichtum und Genußmöglichkeiten verdeckte, im Bereich der nationalen Sphäre realisieren, daß die „deutsche Frage im Bewußtsein der Deutschen in der DDR stärker wachgehalten“ wurde, „als es in unserer Wohlstands-Demokratie der Fall ist“. Was Horst Ehmke, ehemaliger Chef des Bundeskanzleramtes, hier ein Jahrzehnt vor der Einheit notierte, galt nach der „Wende“ um so mehr. Östlich der gefallenen Grenzanlagen hatten sich manch traditionelle Auffassungen und Standpunkte besser bewahrt als im Westen: „Die Ostdeutschen stellten sich 1990 als ‚deutscher‘ heraus als die Westdeutschen“, wie der ostdeutsch sozialisierte, aber heute radikal prowestlich verortete Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk – Leser von „Kaisers Zone“ kennen ihn längst – ergänzt. Eben diese Diagnose für die Post-Wende-Zeit wird in der öffentlichen Wahrnehmung aber erst heute Stück für Stück augenfälliger.
Sie hat viel mit dem zu tun, was man zu Zeiten der deutschen Teilung „Reeducation“ und „Self Reeducation“ der Westdeutschen nannte. Man könnte dieses US-verantwortete Projekt nach 1949 als eine Umerziehung weg von Preußentum und deutschem Sozialkonservatismus hin zu liberalkapitalistischer Individualisierung und dem American Way of Life bezeichnen, die dem Marsch durch die Institutionen des Linksliberalismus’ im Gefolge der „1968er“ dann erheblichen Vorschub leistete. Westbindung hieß immer auch Einbindung Deutschlands in den kollektiven Westen und Entnationalisierung.
Neben diesen geistigen Prozessen in den entsprechenden Hegemonialbastionen – Schulen, Universitäten, Medien etc. – wurde auch auf praktischeren Ebenen eine radikale Verwestlichung praktiziert, die sich sogar bis in den alltäglichen Sport hinein erstreckte, was selbst diesen Freizeitbereich im Westen sich anders entwickeln ließ als im Osten, wo es den dortigen Deutschen – in den Worten Thomas Schmids – regelrecht „warm ums Herz“ wurde, wenn sie beispielsweise bei Fußball-Länderspielen die Hymne vernahmen.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat in seinem kürzlich erschienenen Gesprächsband Die neue Mauer (München 2025) – mit dem ebenfalls bereits erwähnten Bodo Ramelow – darauf verwiesen, daß es tatsächlich eine konservierende Funktion der DDR-Verhältnisse bezüglich deutsch-preußischer Tugenden gegeben habe. Es war dies ein Umstand, der in der BRD überwiegend verstört registriert wurde, wie Kowalczuk am Sportbeispiel weiter ausführt:
„Bundesdeutsche Trainer staunten 1990/91, als sie ostdeutsche Sportvereine übernahmen: Was herrschte dort für ein Drill und eine Uniformierung – jeder Sportunterricht in der DDR war davon geprägt. Vor diesem Hintergrund ist das, was die Amerikaner mit ihrer Reeducation vollbracht haben, eine Riesenleistung. Und später fand mit den „68ern“ noch einmal eine wichtige Selbstreinigung der Gesellschaft statt.“
Daran wird einerseits deutlich, daß auch Kowalczuk die Reeducation in Westdeutschland als conditio sine qua non für die diesen Urgrund benötigende linksliberale 68er-Revolte eingruppiert, und andererseits zeigt schon dieses kleine Beispiel, daß das Problem im Westen zu verorten ist, nicht im Osten. Denn im Osten des Landes hat man jene nationalkulturellen Kontinuitätslinien fortgeschrieben, die der Westen bereitwillig verworfen hatte. Brauchen wir also etwa keine neue Hymne, sondern nach der jahrzehntelangen Verwestlichung nun eine mentalitäts- und damit metapolitische „Verostung“ Westdeutschlands?
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.