Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Ein „Betonkopf“ als Bestsellerautor

von Benedikt Kaiser

Ende Mai 2025 gab es lange Schlangen vor dem Kino Babylon in Berlin-Mitte. Holger Friedrich, Verleger der für ihren Ostkurs zunehmend aus dem Mainstream verstoßenen Berliner Zeitung, setzte sich mit Egon Krenz aufs Podium. Es gab einen Anlaß für das Gespräch: Denn der von Oktober bis zum Dezember 1989 als Generalsekretär der SED wirkende Krenz – zudem war er, leicht zeitversetzt, Vorsitzender des Staatsrates der DDR – präsentierte den abschließenden dritten Band seiner Memoiren aus dem Berliner Verlag edition ost, dem man aufgrund von Personal und Programm eine gewisse Nähe zu den linksideologischen Veteranen der DDR-Spätphase nachsagt. Für den Verlag ist Krenz ein Glücksfall, wie Der Spiegel treffend zusammenfaßt, denn: „Der frühere SED-Chef schreibt heute einen Bestseller nach dem anderen.“

Der Bestsellerautor Krenz legte nun also den Band Verlust und Erwartung vor, der die Zeit ab 1989 in den Fokus nimmt; auch dieser Band ist längst ein Spiegel-Bestseller. Das Gespräch zum Buch war keine Lesung und auch keine Diskussion; eher eine höfliche Befragung, ein kollegialer Austausch und nicht zuletzt: eine durchaus tendenziell sympathisierende Veranstaltung, was spätestens dann augenfällig wurde, als Friedrich seinem Gesprächspartner Krenz für seine politische Weitsicht dankte, indem dieser Militär und Polizei eine Art Gewaltverbot bei den großen Protesten im Herbst 1989 auferlegte. So hätte der zeitweise mächtigste DDR-Politiker verhindert, daß bürgerkriegsähnliche Zustände die sich auflösende Gesellschaft erfaßten. Friedrich: „Das war eine zivilisatorische Großtat.“ Publikum: tosender Applaus.

Bereits bei dieser einen wichtigen Frage – welche Rolle spielte Krenz im Leipziger Herbst 1989, und verhinderte oder begünstigte er die DDR-Abwicklung? – scheiden sich die Geister noch heute. Das Publikum: war sich einig. Die BRD-Geschichtsschreibung: ist sich ebenso einig, nur sieht sie in Krenz keinen Gewaltverächter, sondern einen skrupellosen SED-Herrscher. Und die wenigen wirklichen Verteidiger einer solchen Herrschaft? Die sehen in Krenz bisweilen einen Abweichler. Der wohl schillerndste Autor der DDR-Geschichte, Peter Hacks, reiht Krenz’ Wirken in der Spätphase der DDR gar in den „größte(n) Verrat der Menschheitsgeschichte“ ein. Für den Dichter und Dramatiker war dieser Verrat just die kampflose Preisgabe des Sozialismus’. Krenz, als Nachfolger Honeckers an Staats- und Parteispitze für fünfzig Tage, hätte nur „die Macht ergriffen, um sie aufzulösen“ und um sie an die defaitistischen Abwickler – Hans Modrow und Co. – zu übertragen. Der selbsterklärte „preußische“ Sozialist Hacks, der die DDR umso heftiger verteidigte, je länger sie verblichen war, habe Krenz geraten, die Demonstrationen, die in Leipzig ihren Höhepunkt fanden, schlichtweg zu unterbinden. Hacks in seinem eigenen Stil: „Bismarck wußte: Bourgeois muß man kaufen und ihnen das Maul verbieten. Honecker ließ sie schreien und aber darben! So entstanden die Leipziger Demonstrationen.“ Für Hacks war das Kapitel Krenz damit ebenso beendet wie das Kapitel Honecker – für ihn waren sie mediokre Versager.

Doch die Begeisterungsstürme gegenüber Krenz im Frühsommer 2025, der große Erfolg aller Bände seiner Trilogie, das nicht nachlassende Interesse an seiner Person und an seinen Inhalten machen deutlich: Die Aufarbeitung der Geschichte der „Zone“, also der DDR, ihrer Abwicklung und ihres Fortlebens in den Köpfen im allgemeinen und die Bewertung des Wirkens Krenz’ im besonderen sind weiterhin nicht beendet.

Krenz bedient dabei in diesem anhaltenden Aufarbeitungsprozeß jene Seite, die – analog der Maxime, der Sieger schreibe die Geschichte – in offiziösen Darstellungen nicht zu Wort kommt: Er bedient mithin die Seite der Besiegten von 1990 und gerade nicht jene der Wendebegünstigten. Wer Krenz liest, wer ihm da applaudiert – der muß freilich nicht zwingend SED-Mitglied oder auch nur Sympathisant gewesen sein, vielleicht war er apolitisch oder oppositionell; er war aber ziemlich sicher DDR-Bürger und vermißt heute ostdeutsche Sichtweisen auf ostdeutsche Probleme.

Deshalb greift auch die Kritik von überzeugten „Anti-Ostlern“ wie dem auf diesem Terrain herausragenden Ulbricht-Biographen Ilko-Sascha Kowalczuk zu kurz, der den neuen Band Kapitel für Kapitel historisch-analytisch zerlegte und dekretierte: „Sein Buch ist erwartungsgemäß eine pure Apologie kommunistischer Herrschaft.“ Der Erfolg, den Krenz erzielt, ist ja gerade nicht dieser Apologie geschuldet – sondern Krenz’ Befähigung, ostdeutsche Seelen selbst dann zu streicheln, wenn sie der Sympathien für Krenz’ einstigen SED-Machtapparat unverdächtig sind. Denn Krenz trifft Punkte, die heute tatsächlich unter den Tisch fallen oder abgetragen werden: Er türmt die realen Mißstände der zeitgenössischen BRD auf, stellt sie den ebenso realen, aber heute meist zu leugnenden Vorzügen der untergegangenen DDR gegenüber – von Vertrauensräumen und Gemeinwohldenken über soziale Sicherheit und kulturelle Kärrnerarbeit bis hin zum Primat des „Wirs“ des Ostens gegenüber eiskalter Berechnung, überbordender Kriminalität, Gewaltexzessen und dem alles beherrschenden Primat des „Ichs“ in der Gegenwart des Westens. Darüber wäre tatsächlich zu diskutieren, ohne den stupiden Vorwurf der „Ostalgie“ zu erheben, wie es landauf, landab vollzogen wird.

Der bereits zitierte Hacks hatte einst formuliert: „Worauf es doch ankommt, ist, beim Lauf nach dem Glück nicht das Gute, das man schon hat oder hatte, aus dem Korb zu verlieren.“ Die BRD-Verantwortlichen handelten 1990 und danach entschieden anders: Das Gute aus DDR-Zeiten, das es trotz aller SED-Schikanen und Stasi-Repressalien zweifellos auch gab, wurde pauschal und fundamental verworfen; der Korb wurde nicht nur entleert, sondern als Ganzes auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Einerlei, wie man subjektiv zu den einzelnen Sachverhalten der DDR-Geschichte in all ihren Widersprüchen stehen mag, bleibt objektiv zu konstatieren: Ebendieser fait accompli der BRD-Eliten ermöglicht Krenz heute, ostdeutsche Stimmungslagen zu lesen, zu bespielen, zu nutzen. Viele Millionen Ostdeutsche fühlen sich beim rabiaten Vorgehen der Westeliten ihrer Selbstbestimmung beraubt und sehen ihre Lebensgeschichte entwertet.

Was Krenz hingegen nicht leistet, und hier verpaßt er wie schon bei seinen Vorgängerbänden  gänzlich eigenverschuldet eine große politisch-historische und biographische Chance, ist eine (selbst)kritische und tiefgreifende Darstellung des Unrechtes in der DDR aus der Sicht eines Beteiligten an ebenjenen Delikten. Gewiß gab es beispielsweise aus Sicht der SED-Herrscher „rationale“ Gründe für den Mauerbau 1961, sicher starben neben Republikflüchtlingen auch DDR-Polizisten an der innerdeutschen Grenze, und ebenso bestätigt ist es, daß westliche Geheimdienste und ihre Laufburschen Unmut in der DDR-Gesellschaft anfachten: Aber wie Krenz wiederholt leugnet, daß es eine tiefsitzende Kluft zwischen einer relativen Mehrheit der Ostdeutschen und „ihrer“ Regierung gegeben habe und zwar über Jahrzehnte sich verschärfend, ist geradezu grotesk und zeugt von jener Halsstarrigkeit, die dazu führte, daß ihn Kritiker als „Betonkopf“ zeichneten – ein Umstand, der ebenso augenfällig wird, wenn Krenz über den 9. Mai als „Tag des Sieges“ doziert und antifaschistische Mythen ganz so reproduziert, als lebten wir noch 1955 oder 1975 unter Ausschluß einer soliden Quellenlage im Hegemonialbereich der doktrinären sowjetischen Geschichtsschreibung, ja, als wüßten wir nichts von den Massenmorden und Vertreibungen des „Großen Bruders“ in Gestalt der ukrainisch-russisch-asiatischen Roten Armee etc. pp.

Dieser grundsätzlichen Kritik ungeachtet lohnt die Lektüre der Krenz-Trilogie, allen voran dieses Bandes. Kowalczuk hält ihn für den schlechtesten der drei, der Autor dieser Zeilen für den besten. Der Leser sollte sich einen eigenen Eindruck verschaffen – vielleicht wird „tertium non datur“ hier ebenso widerlegt wie bei der Bewertung der DDR-Geschichte, deren lebendige und widersprüchliche Vielgestaltigkeit über vier Jahrzehnte hinweg ein einfaches „Schwarz-Weiß“-Weltbild verbietet. Weder Krenz noch Kowalczuk, weder DDR-Apologie noch BRD-Apotheose können einen „deutschen Standpunkt“ der Geschichtsanalyse im Jahr 2025 darstellen.

Benedikt Kaiser

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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