von Benedikt Kaiser
Am 25. Mai 2025 wäre der ostdeutsche Denker Dieter Strützel 90 Jahre alt geworden. Wäre – denn der in Dessau, heute Sachsen-Anhalt, geborene Kultur- und Literaturwissenschaftler mit starker Neigung zur Strategiediskussion und politischem Engagement ist bereits am 9. Mai 1999 in Gera, Thüringen, einem Krebsleiden erlegen. Doch Strützel bleibt für uns heute politisch und kulturell Wirkende auch 26 Jahre nach seinem Tod interessant, zumal für jene, die im heutigen Osten der BRD aktiv sind. Ob er wirklich der „Sokrates der DDR“ war, wie der Dokumentarfilmer Jens-Fietje Dwars rühmte, mag dahingestellt sein. Doch lernen kann man in jedem Fall.
Es geht dabei weniger um seine Rolle als Lektor beim traditionsreichen Mitteldeutschen Verlag, zu dem er nach seiner Doktorarbeit über das „Typische“ 1966 beruflich wurde, zumal er bereits nach vier Jahren Tätigkeit vom SED-Kulturminister abberufen wurde, da er „verzerrten Darstellungen der Wirklichkeit“ Vorschub geleistet haben sollte. Und es geht auch nicht primär um seine anschließende Forschung als Kultursoziologe an den Universitäten Leipzig und Jena. Vielmehr ist es der politische Stratege, der uns heute Hilfreiches vermitteln kann. Dazu muß man wissen, daß es Strützel war, der in Thüringen im besonderen und in Ostdeutschland im allgemeinen ab 1989 aus der verkrusteten, oligarchisierten SED eine lebendigere, dynamischere PDS machen wollte. „Partei von unten“ und zwar unter Einbezug Andersdenkender und Parteifreier, war seine Devise – nicht klassisches unhinterfragtes Honecker-Durchregieren von oben.
Ab 1990 prägte er den PDS-Landesverband in Thüringen mit diesem Weg. Die desavouierte linke Staatspartei baute er um zu einer „pluralen“ linken Sammlungspartei. Er legte damit gewissermaßen den Grundstein für die späteren Erfurter Wahlsiege und die – aus rechter Sicht eminent ärgerlichen – Regierungsbeteiligungen seiner PDS, die nach seinem Tod zur Partei Die Linke wurde.
Strützel war hierbei ein praktizierender Apologet einer milieuschaffenden und milieuprägenden „Mosaik“-Struktur, bevor diese einen solchen Arbeitstitel erhielt: Es ging ihm um Verzahnung mit „zivilgesellschaftlichen“ Akteuren aus Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen und Intellektuellenkreisen. Dafür schuf er in Schnepfenthal im Westen Thüringens, südlich von Gotha, ab 1992 u.a. eine Plattform „Konkrete Demokratie“ mit Seminarbetrieb („Sommer- und Winterschule“), in der einander Partei und Vorfeld, Ost und West zum Austausch und zu Strategiegesprächen trafen.
Auf Antonio Gramscis Schultern stehend und in dessen vielgestaltigem Theorie-Praxis-Ansatz zu Hause, was für ostdeutsche Linke in jenen Jahren durchaus eine Rarität darstellte, gab Strützel seiner Partei mit, insbesondere in das zu investieren, was man heute „Vorfeld“ zu nennen gewöhnt ist. „Man greift nicht dort an,“, erklärte Strützel seinen Genossen beim Landesparteitag 1995 in Erfurt, „wo der Gegner ein fest gefügtes Festungssystem hat, und der Staat der Parteien ist ein solches System“. Vielmehr gehe es darum, „die anderen dynamischen Kräfte der Gesellschaft, die sich nicht unter diese Kontrolle stellen lassen, mit in Bewegung“ zu setzen. Gemeint war damit: Als Partei ist man Zwängen unterworfen, die man zu akzeptieren und im Rahmen seiner Arbeit zu berücksichtigen hat; das entspricht – im Sinne Rosa Luxemburgs – dem parlamentspolitischen „Standbein“. Mehr Möglichkeiten zur Entfaltung und Kreativität habe man dort, wo die „anderen dynamischen Kräfte“ wirken würden, also im außerparlamentarischen Raum, in der Metapolitik mithin, d.h. basierend auf dem, was Luxemburg „Spielbein“ titulierte.
Es ist dies womöglich eine Erkenntnis ohne realpolitisches Ablaufdatum, die auch in volksverbundenen Kreisen neu zu diskutieren und auf die eigene spezifische politisch-historische Lage zugeschnitten einzuordnen wäre.
Der zweite Punkt, weshalb eine Auseinandersetzung mit Dieter Strützel heute lohnenswert scheint, ist seine Duldsamkeit und Offenheit gegenüber politischen Gegnern. Dies ist deshalb um so bedeutsamer, da just seine Partei, SED-PDS-Linkspartei-Die Linke, leidlich bekannt dafür ist, keine Toleranz gegenüber ihren Kritikern zu üben; heute erscheint diese Situation härter denn je. Strützel hingegen blieb gesprächsoffen, und eines seiner vielbemühten Axiome lautete: „Das Stück Wahrheit, das mir fehlt, hat gewiß der andere.“
Es ist völlig illusorisch, daß ein solcher Standpunkt, der Kritik zuläßt und Selbstkritik einschließt, von seinen heute wirkenden Genossen auch nur ansatzweise vertreten würde. Im Gegenteil: Der antifaschistische Furor, ja geradezu der unverhohlene Vernichtungswille gegenüber Andersdenkenden, ist der Majorität der deutschsprachigen Linken zur zweiten Haut geworden: Vordenkern wie Aktivisten, Theoretikern wie Praktikern.
Das wird auch an einem insgesamt anderen politisch-gesellschaftlichen Klima gelegen haben. Denn zur selben Zeit, als Strützel im Osten die Lage analysierte, tat es ihm einer seiner Kollegen aus dem Westen, der noch heute links der Mitte wirkt, der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, gleich. Auch er kannte damals noch eine Offenheit zum Gegner hin, die heute vergessen scheint. In seiner Studie über den AfD-Vorläufer der „Republikaner“ formuliert Leggewie etwa im Wendejahr 1990, daß Demokraten lernen müßten, „mit den politischen Risiken, die eine freie Gesellschaft“ aufbietet, „auch politisch umzugehen“. „Denn anders“, so Leggewie, „ist Freiheit nicht zu haben“. Den Gegner als Konkurrenten durch Verbote auszuschalten, schicke sich nicht, „anderenfalls wird die Freiheit der politischen Parteien vom Grund her in Frage gestellt und das Bundesverfassungsgericht zum obersten Politikzensor“. Eben dies vollzieht sich heute bezüglich der Alternative für Deutschland – und Leggewie schweigt.
Wenn Linke in ihrem Haß auf das andere und auf den Widerspruch als Triebkraft der politischen „Diskurse“ nicht zu „rechten“ Autoren greifen, sollten sie wenigstens den des politischen Rechtsdralls unverdächtigen Nobelpreisträger Daniel Kahneman konsultieren. Dieser schrieb in seinem Bestseller Noise (München 2023), daß zu jeder Fehlervermeidungsstrategie gehöre, „offen für Gegenargumente“ zu bleiben und sich immer dessen bewußt zu sein, daß man sich möglicherweise irre. Ein guter „Entscheider“ – ob in Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft – sollte bei aller Festigkeit des eigenen Standpunktes immer einen „Schatten des Zweifels“ zulassen. Das erinnert an Strützels „Stück Wahrheit“, das „der andere“ besitzen könne. In keinem Fall indes erinnert es an die realexistierende Situation in Thüringen, in Ostdeutschland und im gesamten deutschen Sprachraum des Jahres 2025.
Die Strützels auf der Linken scheinen abgelöst durch geistlose Scharfrichter.
Benedikt Kaiser
Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.