von Reinhild Bauer
Brauchtum (39)
Viele unserer Bräuche entstanden aus einer gewissen Zweckmäßigkeit und im Wechselspiel mit der Natur und ihren Urgewalten. Doch so mancher Brauch, der sich inzwischen als solcher etablierte, geht auf die Idee einer einzelnen Person zurück. Das erdachte Ritual wurde nach besten Kräften bekannt gemacht und verbreitet, sodaß es im Idealfall zu einem Brauch wurde. Die meisten dieser künstlichen Bräuche gerieten relativ schnell wieder in Vergessenheit – aber nicht alle.
Ein Beispiel ist der Liebstattsonntag, ein erfundener Brauch, der jährlich am vierten Sonntag der Fastenzeit in Gmunden stattfindet. Sein Ursprung liegt im Jahre 1641, als sich die „Corpus Christi Bruderschaft“ in der Stadt am Traunsee niederließ. Ihre Aufgabe war es, das religiöse Leben zu vertiefen. An eben jenem Datum – dem vierten Fastensonntag – mußten die Mitglieder dieses Ordens ihr Gelöbnis der Glaubenstreue und der brüderlichen Liebe erneuern. Dies wurde „Liabb’státt’n“ (Liebe bestätigen) genannt. Denn der Bischof beauftragte im selben Jahr den Stadtpfarrer, an diesem vierten Fastensonntag ein gemeinsames Essen für die Armen und Bedürftigen zu organisieren. Da paßte der Name der Gelöbniswiederholung perfekt. Für den sich neu etablierenden Brauch entwickelte sich daraus der „Liebstattsonntag“.
Als es im 18. Jh. zur Auflösung der Bruderschaft kam, ging der religiöse Hintergrund dieses Brauches verloren und geriet insgesamt etwas aus dem Fokus. In der Nachkriegszeit kam es zu einem neuen Aufblühen des „Liebe abstattens“, allerdings in veränderter Form: Eigens dafür gebackene Lebkuchenherzen, von Hand liebevoll verziert – die Liebstattherzen – treten in Erscheinung. Entweder selbstgemacht oder vom Gmundner Konditor bestellt, werden diese unter den Bedürftigen verteilt.
Der heutige Ablauf sieht so aus, daß die beiden Trachtenvereine und die Goldhaubengruppe sich zum Kirchgang treffen, mit anschließendem Festzug samt Musikkapelle zum Rathausplatz. Die Liebstattherzen werden sodann an die Gäste und die Bevölkerung verteilt. Seit den 1970er-Jahren wird zusätzlich noch den sozialen Einrichtungen der Stadt ein Besuch abgestattet: dem Altenheim, dem Pflegeheim und dem Krankenhaus, um Bewohner und Personal mit den Herzen zu beschenken.
Um den Brauch der nächsten Generation näherzubringen, werden seit 2009 auch die Volksschulen besucht.
Seit 2014 befindet sich dieser Brauch unter dem Schutz der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe. Damit ist der künstliche Brauch des Liebstattsonntags ein hervorragender Beweis, daß sich auch solche Bräuche über die Generationen hinweg erhalten und sogar eine beachtliche „Karriere“ machen können.
Über die Autorin:
28 Jahre alt, Ehefrau, Mutter und Mitorganisatorin zweier großer Kulturveranstaltungen für die deutsche Jugend; aufgewachsen im Österreichischen Turnerbund und der Bündischen Jugend, Studium zur Volksschullehrerin, anschließend drei Jahre in der österreichischen Politik.