von Daniel Fabian
Ohne ausländische Einflüsse bestreiten zu wollen, gibt es wohl ein spezifisch „deutsches Märchen“. Ein „ostdeutsches Märchen“ als solches jedoch gibt es gewiß ebensowenig wie ein speziell nord- oder süddeutsches. Zu unterschiedlich sind die regionalen Traditionen zwischen zum Beispiel donauschwäbischen Märchen und ihren pommerschen Vettern. Soweit es unverwechselbare Züge in den Märchen aus diesen Regionen gibt, haben sie untereinander kaum etwas gemein. Und soweit sie Gemeinsamkeiten haben, sind diese allgemein deutsch.
In der Tat ist aber die Märchenüberlieferung regional ungleich verteilt – es bleibt unklar, ob es tatsächlich „märchenärmere“ und „märchenreichere“ Gegenden gibt oder ob dies durch eine unterschiedliche Sammeltätigkeit bedingt ist. Vielleicht brach die Märchentradition in manchen deutschen Ländern ab, bevor die Sammler des 19. Jh. diese Landschaften erreichen konnten. Vielleicht waren auch Gebiete fern der Machtzentren und großen Verkehrswege eher geeignet, die Überlieferung weiterzugeben. Wie dem auch sei: Tirol und die Steiermark sind in den Sammlungen reicher vertreten als Oberösterreich und Bayern, desgleichen Hessen, Westfalen und Lothringen reicher als die Länder am Rhein sowie das Sudetenland und Schlesien reicher als Sachsen und Brandenburg. Auch wer die These, wo mehr gesammelt worden sei, sei eben mehr erhalten geblieben, für sehr plausibel hält, sollte bedenken, daß bereits dem 1814 in Wien weilenden Jacob Grimm mitgeteilt wurde, „Böhmen und die Steiermark“ seien ein wahres „Märchenparadies“. Und die deutschen Sprachinseln in Ungarn haben einen Märchenschatz tradiert, der in überhaupt keinem Verhältnis zur früheren Bevölkerungszahl dieser Gebiete steht. Der Nestor der deutschen Märchenforschung Friedrich von der Leyen ließ in seiner berühmten Sammlung Die Märchen der Weltliteratur u.a. „Deutsche Volksmärchen“ sowie „Österreichische Märchen“ sammeln. 17% bzw. 8% der dafür ausgewählten repräsentativen Märchen stammen aus Ungarn und dem benachbarten Banat!
Ex oriente fabula – vom Hexenhaus zum Türkenhaus
Wer nach einer speziell ostdeutschen Märchentradition sucht, wird daher am ehesten dort fündig, im äußersten Südosten des deutschen Sprachgebietes, wo Deutsche schon immer Tür an Tür mit anderen Völkern und teilweise von diesen beherrscht lebten. Die bedeutendsten Märchentraditionen weltweit neben der deutschen und der französischen sind die orientalischen, genauer die indischen und arabischen Märchen. Diese Reiche hatten schon früh eine reiche Schrift- und Erzähltradition, und Südosteuropa war jahrhundertelang von den Osmanen besetzt. Hierin keinen Grund für das Übergewicht an Märchengut im heutigen Ungarn und Rumänien anzunehmen, wäre befremdlich. Manche Märchen wanderten auch direkt aus den Nachbarkulturen über die volksdeutschen Siedlungsgebiete in den deutschen Märchenschatz ein.
Diese deutsch-südosteuropäischen Märchen sind beeinflußt vom Nebeneinander der Völker und Konfessionen – insbesondere die deutschen Märchen aus Ungarn und Rumänien werden gelegentlich von Zigeunern, Türken oder rumänisch sprechenden Popen bevölkert, mit denen es oft ein schlechtes Ende nimmt. In einem sudetendeutschen Märchen wird aus dem Hexenhaus aus Pfefferkuchen der bekannten Hänsel-und-Gretel-Erzählung gar ein „Türkenhaus“.
Es gibt weitere, aber kaum relevante ostdeutsche Besonderheiten, etwa die Neigung der Schlesier und Ostpreußen zu Märchen und Sagen mit Riesen und anderen benannten und identifizierbaren Wunderwesen oder die sonst für Märchen untypische Verortung bei schlesischen Märchen. Sonst aber sind ostdeutsche Märchen einfach typisch deutsche Märchen voller zu befreiender Prinzessinnen, armer frommer Leute, kluger unterschätzter dritter Brüder, übertölpelter Teufel, unmöglicher Aufgaben, hilfreicher Zaubergegenstände und sprechender Tiere. Die Unterschiede zu den Märchentraditionen der Nachbar- bzw. Mehrheitsvölker springen in der Regel ins Auge. Es sind eben Volks-, keine Nationalmärchen.
Literaturhinweise (Auswahl):
Schlesiens deutsche Märchen, Ostdeutsche Verlagsanstalt 1932
Volksmärchen aus Siebenbürgen, Diederichs Verlag 1939
Ostdeutscher Märchen- und Sagenborn, Verlag Volk und Heimat 1953
Deutsche Volkserzählungen aus dem Osten, Aschendorff-Verlag 1963
Deutsche Volksmärchen, Diederichs Verlag 1966
Preußische Märchen, Fischer Taschenbuchverlag 1979
Österreichische Märchen, Diederichs Verlag 1979.