von Daniel Fabian
Märchen galten und gelten vielen als Kindergeschichten, insofern als harmlos und keiner ernsthaften Betrachtung wert. Dennoch hat das Volksmärchen eine über 200 Jahre lange Reise als Forschungsgegenstand hinter sich, in deren Verlauf dieses Genre der Volksüberlieferung ganz erheblich auf das Bild eingewirkt hat, das wir Deutschen und alle anderen von und vom Deutschen haben.
Was ist ein Märchen?
Was genau ein Märchen sei, ist schwerer zu beantworten, als es zunächst scheint. Ein Volksmärchen ist keine von einem Schriftsteller erfundene Geschichte, aber auch keine historische Überlieferung und auch kein religiöser Mythos. Es dient auch weder allein der Unterhaltung noch hat es nur eine soziale Funktion. Märchen, Sage, Fabel und Legende stehen zwischen anderen Gattungen als etwas ganz eigenes, das sich der literarischen Bearbeitung nicht ganz entzieht, aber auch nicht ganz öffnet. Es ist echtes Volksgut wie der Aberglaube, das Volkslied oder der Brauch. Wie der größte deutsche Märchenforscher seit den Brüdern Grimm, Friedrich von der Leyen, es so schön ausdrückte: „Die Fabel, die Poesie, das einzige Vermächtnis der früher die Welt umfassenden Weisheit, soll die Zukunft erkennen, die Herrschaft der Affekte, den Wechsel von Tod und Geburt überwinden und das Reich der Phantasie und der mütterlichen Gewalt der Erde in ihr altes Recht einsetzen.“ Im Märchen liege ihm zufolge „tiefe und letzte Weisheit, die sich vor unsren Augen verbirgt und die wir nur erahnen können.“ Weitaus mehr also als banale Kindergeschichten…
Das ursprüngliche Märchen ist „Wunder- und Zaubergeschichte“, so von der Leyen, und unhistorisch – sonst ist es eine Sage. „Es war einmal vor langer Zeit“ – Ort und Zeit sind nicht unbekannt, sondern unwichtig. Wenn die übernatürlichen Elemente nach und nach durch moderne Auffassungen abgeschliffen und schließlich literarisch bearbeitet werden, entartet das Märchen zum Schwank (z.B. die Schildbürger- oder Eulenspiegelgeschichten), zur Fabel oder Lehrgeschichte (z.B. Hase und Igel, Hans im Glück), zur unterhaltsamen Lügengeschichte (z.B. um den Baron Münchhausen) oder zur anekdotischen Erzählung; dabei verliert die Erzählung ihr Wichtigstes. Gleichzeitig hat das Märchen als lebendiges und bewegliches Volksgut die Möglichkeit, Motive dieser anderen Erzählformen in sich (wieder)aufzunehmen und weiterzutragen.
Das Volksmärchen ist nach der Forschung älter als die Seßhaftigkeit unserer Vorfahren.
Kunstmärchen sind etwas kategorial völlig anderes als Volksmärchen, dennoch ist ihre Trennung nicht immer ganz scharf, weil auch die Märchenforscher die ihnen erzählten Märchen bearbeiteten und mit ihnen passend erscheinenden Motiven ergänzten; und weil auch die Kunstmärchenautoren überlieferte Vorbilder nahmen und abwandelten. Das Kennzeichen des Volksmärchens ist gerade, daß es sich solchen Bearbeitungen immer wieder entzieht, sich in der mündlichen Erzählung über Generationen hinweg verändert, aber dennoch wiedererkennbar seine Eigenart bewahrt. Das noch unbearbeitete Volksmärchen ist gelegentlich erkennbar daran, daß es z.B. kein oder ein erzählerisch mißglücktes Ende hat, schlecht zum Rest passende Elemente enthält oder gar überhaupt keinen Sinn ergibt. Solche Beispiele finden sich freilich nicht in den gängigen Hausbüchern und Sammlungen für Kinder, sondern nur in der volkskundlichen Literatur, wo den letzten lebenden Märchenerzählern ihre Geschichten Wort für Wort abgelauscht wurden. Das Kunstmärchen erlangte jedenfalls erst im 18. Jh. Bedeutung.
Es läßt sich spekulieren, ob die sehr häufigen Motive von Reise, Ferne, Fremdheit und Überraschung daher rühren würden. Wenn das stimmt, wären die so bekannten und so harmlos erscheinenden Märchen unserer Kindheit tatsächlich ein Fenster in die Urgeschichte der Menschheit, lange vor jeder noch so frühen Hochkultur. Als geschlossene Erzählung und Tradition entsteht das Märchen in Europa etwa im 10. Jh. aus den frei vorgetragenen Geschichten und Liedern der Spielleute, wie sie schon im Altertum existierten.
Deutscher Volksgeist und Märchen
Diese so beziehungsreiche und etwas geheimnisvolle Erzählform kann von ganz anderer ideologischer oder weltanschaulicher Warte betrachtet als besonders „deutsch“ gelten: Verbindet sich nicht eine Sehnsucht nach dem Fernen, Exotischen und Phantastischen mit einer Gebundenheit an das oft schwierige Eigene – im Märchen wie im Deutschen? Wechseln nicht Traum und Klarheit einander ab, bricht nicht heftige Emotion mit seltener, dann aber großer Kraft herein – im Märchen wie bei den Deutschen? Ist das Märchen nicht gewalttätig, oft roh und grausam, dann aber auch kindlich, verspielt und gedankenschwer – ebenso wie das deutsche Volk? Und sind es nicht die Deutschen, die wie kein anderes Volk die Wiederentdeckung eines zuvor unbewußten, halbmythischen eigenen Kulturbodens in einen nationalen Aufbruch bündeln konnten – nicht zuletzt durch die Aneignung alter Lieder, Sagen und gerade auch Märchen?
Zu allgemeinem Bewußtsein gebracht wurde das deutsche Volksmärchen durch die Brüder Grimm in der „Franzosenzeit“. Ohne Geschichten, die als die verlorenen, wiedergefundenen eigenen Geschichten wahrgenommen wurden, sind die zur Reichseinigung hinführende geistige Reform, die Romantik und somit die gesamte deutsche Sonderentwicklung im 19. Jh. schlecht vorstellbar. Mit typisch deutscher Gründlichkeit wurde das Volksmärchen in der Restaurationsepoche und ebenso in der wilhelminischen in unübertroffener Weise erforscht und damit vor dem Verschwinden bewahrt, während die letzten Erzähltraditionen auch in abgelegenen Winkeln von der Dampfwalze des „Fortschritts“ zerstört wurden. Ohne deutsche Märchensammler im 19. und frühen 20. Jh. hätten etliche, nicht nur europäische Völker ihre Märchen heute vergessen.
Andererseits wird und wurde uns Deutschen eine besondere Nähe zur Tiefendimension des Märchens nachgesagt, zu kollektiven unbewußten Geistesverfassungen, verschütteten, doch wiederkehrenden Traditionen, Ideen und Träumen. Diese im Märchen beschworenen Bilder sind so stark und so eindeutig zu sehen, daß der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung – und mit und nach ihm eine ganze Schule bis heute – gar meinte, im Märchen eine kollektive Erinnerung aller Menschen an ihre Vorzeit und in den Märchenmotiven Urbilder vom Menschsein, „Archetypen“, finden zu können, deren Entschlüsselung befreiende Wirkung für den modernen, seiner selbst entfremdeten Menschen haben könne. Keiner anderen Erzählform wurde auch nur annähernd Gleiches nachgesagt.
Volksgut – und dennoch Gemeingut
Heute gehören die hauptsächlich in Hessen und Westfalen aufgezeichneten Volksmärchen aus den Grimm’schen Sammlungen zu den weltweit bekanntesten Märchen. Ob sie noch immer als deutsch wahrgenommen werden, ist fraglich. Nach all dem oben Gesagten mag die Frage paradox scheinen: Gibt es ein deutsches Märchen? Märchentraditionen verschiedener Völker unterscheiden sich; dennoch treten bestimmte Typen und Motive weltweit auf, was schon früh die Vermutung nach gemeinsamen vorgeschichtlichen Ursprüngen aufkommen ließ. Ganz klar ist dies bis heute nicht. Die Gemeinsamkeiten sind jedenfalls frappierend: Märchen spielen in aller Regel in einer phantastischen, geheimnisvollen Welt, in der fast alles möglich erscheint und die dennoch der realen Welt eng verwandt ist, gewissermaßen gleich vor der Haustür beginnt. Tiere sprechen, übernatürliche Wesen mischen sich in die Angelegenheiten der Menschen ein, und magische Gegenstände bewirken Ungeheures; es herrscht eine recht schlichte Moral von Gut und Böse, und der Beherzte oder Großmütige kann sein Glück finden. Dies alles findet sich bei europäischen genauso wie bei Märchen von Wüsten-, Regenwald- und Inselvölkern.
Die deutschen Märchen werden aus einem begrenzten Raum heraus erzählt.
Aber auch die Unterschiede stechen ins Auge: Geschichten von Welterschaffung, Herkunft des Menschen oder welterschütternden Heldentaten, die andere Völker, z.B. in Afrika oder Amerika, kennen, hat der deutsche Märchenschatz nicht. Unser Märchen wird aus einem begrenzten Raum heraus erzählt, der Bauernkate, der Köhlerhütte oder selbst dem Schloß eines kleinen, keineswegs weltbeherrschenden Königs heraus, und wo der Erzählstrang darüber hinaus in phantastische Welten ausgreift, kehrt er doch in aller Regel wieder dorthin zurück. Das deutsche Volksmärchen entsteht aus einer bereits auf hoher Kulturstufe stehenden Tradition heraus, ist damit nicht vergleichbar mit märchenhaften Geschichten von Jägern und Sammlern oder von Nomadenvölkern.
Manche ursprünglich ausländische, z.B. französische Märchen wie Dornröschen oder Rotkäppchen, haben durch die Grimmsche Bearbeitung einen anderen Charakter erhalten. Manche Märchen kamen ursprünglich aus Tausendundeine Nacht zu uns. Und es ist faszinierend, daß manche Märchen offenbar aus dem Mittelalter oder der Völkerwanderungszeit oder sogar aus der griechisch-römischen Antike stammen, in Indien, Arabien, Ägypten oder dem nordisch-germanischen Sagenkreis ihren Ursprung und dennoch alle in der Volksüberlieferung eine so eigene, wiedererkennbare, gemeinsame Form im Sinne echten Volksgutes gewonnen haben, daß die so verschiedene Herkunft heute nur noch durch Forschung erkennbar wird und die so entstandenen Märchen allesamt als „typisch deutsch“ gelten können, auch wenn das nicht mehr jedem Leser bewußt sein mag.