von Bernhard Tomaschitz
Die Karpaten sind neben den Alpen jener Gebirgszug, der Mitteleuropa am meisten prägt. Nicht nur landschaftlich oder kulturell, sondern auch geopolitisch. Das Königreich Ungarn hatte über Jahrhunderte, bis es durch das Friedensdiktat von Trianon 1920 auf seine heutigen Grenzen reduziert wurde, den Hauptkamm der Karpaten als natürliche Grenze. Noch heute empfinden zahlreiche Ungarn Trianon als historisches Unrecht, und Budapest versucht, sein politisches Gewicht in jenen angrenzenden Gebieten, die einst zur Stephanskrone gehörten, zu erhöhen, was wiederum zu Spannungen mit Nachbarländern führt. So verkündete Ministerpräsident Viktor Orbán 2014: „Dem ungarischen Karpatenbecken wird die doppelte Staatsbürgerschaft zuerkannt.“ In diesem Zusammenhang nannte er ausdrücklich die in der ukrainischen Oblast Transkarpatien lebende, rund 200.000 Angehörige umfassende ungarische Minderheit.
In Ungarn taucht der Begriff Karpatenbecken immer wieder in der politischen Diskussion auf.
Für Peter Balogh von der Budapester Eötvös-Loránd-Universität war das Konzept des Karpatenbeckens (Kárpát-Medenz) die wohl grundlegendste Vorstellung im ungarischen geographischen Denken, spielte in den 1930er- und 1940er-Jahren eine große Rolle und hat seit den 1980er-Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Dieses Konzept argumentiert damit, daß das Karpatenbecken eine geographische, historische und wirtschaftliche Einheit bilde.
Daß nach dem Ersten Weltkrieg Siebenbürgen Rumänien zugeschlagen wurde, hat auch geopolitische Gründe. Eine Erklärung liefert der britische Militärgeograph Halford Mackinder in seinem 1919 erschienenen Werk Democratic Ideals and Reality, in welchem er die „große transsilvanische Bastion der Karpaten mit ihren fruchtbaren Tälern, metallhaltigen Bergen, Ölquellen und ausgedehnten Wäldern“ als den „natürlichen Mittelpunkt Rumäniens“ bezeichnete. Der Rest Rumäniens – also Moldau und die Walachei – war für Mackinder, der vielen als Begründer der Geopolitik gilt, das „Glacis“. Es ging den Siegermächten also um die Kontrolle eines Gebirges, das, weil es eine natürliche Barriere bildet, militärstrategisch eine wichtige Rolle spielt. Peter Balogh erwähnt den österreichischen Autor Salomon Steinhard, der 1859 die Karpaten als Trennwand und Siebenbürgen als Festung zum europäischen Orient beschrieb, die im Falle einer „politischen Entwicklung im Osten“ leicht zu sichern und militärisch bedeutsam sei.
„Jenseits der bewaldeten Barrieren der Karpaten beginnen die Steppen des Hauptgürtels, die sich nach Osten hin ausbreiten.“
Darüber hinaus ist von besonderer Bedeutung, daß die Karpaten Teil der Grenze zwischen Mitteleuropa und Ost- bzw. Südosteuropa sind. Dazu schrieb Mackinder vor mehr als hundert Jahren: „Jenseits der bewaldeten Barrieren der Karpaten beginnen die Steppen des Hauptgürtels, die sich nach Osten hin ausbreiten.“ Mackinder postulierte, daß derjenige, der über Osteuropa herrsche, das Herzland kontrolliere, wer das Herzland kontrolliere, die Weltinsel (Eurasien) beherrsche und wer die Weltinsel kontrolliere, über die Welt herrsche. Daß Mackinders Postulat bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat, beweist der Ukrainekonflikt, in dessen Zentrum die militärische Einkreisung Rußlands durch die USA bzw. die NATO steht.
Dem US-amerikanischen Politikwissenschafter Samuel Huntington (1927-2008) zufolge verläuft die Grenze zwischen dem westlichen und dem orthodoxen Kulturkreis unter anderem an den Karpaten, konkret „durch Rumänien zwischen Transsylvanien mit seiner katholisch-ungarischen Bevölkerung und dem Rest des Landes“. Huntington sah am rumänischen Karpatenhauptkamm eine kulturelle Bruchlinie verlaufen und sprach sich deshalb in seinem 1996 erschienenen Buch Kampf der Kulturen gegen einen NATO-Beitritt Serbiens, Bulgariens, Rumäniens, Moldawiens, Weißrußlands und der Ukraine aus. Man kann Huntingtons Konzept der Kulturkreise durchaus als auf kulturellen, historischen und religiösen Kriterien beruhende Einflußsphären bezeichnen, wenn er schreibt: „Eine auf westliche Staaten beschränkte Expansion der NATO würde auch die Rolle unterstreichen, die Rußland als Kernstaat eines eigenen, orthodoxen Kulturkreises zu spielen hat.“
Als eine Art Bruchlinienkonflikt im Kleinen kann der immer wieder auftretende Streit zwischen Ungarn und der Ukraine wegen der Rechte der magyarischen Minderheit in der Oblast Transkarpatien betrachtet werden. Seit Kiew 2017 per Gesetz den Gebrauch von Minderheitensprachen im Schulwesen einschränkte – dieser Schritt richtete sich gegen die russische Sprache, aber die übrigen Minderheitensprachen des Landes waren als eine Art Kollateralschaden ebenfalls betroffen – steht Budapest in Bezug auf die NATO- und EU-Ambitionen der Ukraine auf der Bremse. „Wie ein Stück der ländlichen Westukraine zu einer geopolitischen Bruchlinie wurde“, titelte im Dezember 2019 das Magazin Politico. Und im Artikel hieß es: „Im Oktober ließ Ungarn erneut seine Muskeln spielen und legte sein Veto gegen eine Erklärung über die Ukraine ein, weil sie Kiews Verpflichtung zum Schutz der ethnischen Ungarn nicht erwähnte.“ Und seit Beginn des Ukrainekrieges versucht Orbán, so gut es geht, sein Land, das NATO-Mitglied ist, aus der militärischen Unterstützung des Nordatlantikpaktes für die Ukraine herauszuhalten.
Rußland leidet seit Jahrhunderten an dem geopolitischen Trauma, daß seine Grenze nach Westen hin schwer zu schützen ist.
Denn die russische Westgrenze befindet sich in der nordosteuropäischen Tiefebene und ist daher von Invasoren – Stichwort: Napoleon und Hitler – leicht zu überwinden. Also versuchte Rußland, seine Westgrenze schrittweise nach Westen zu verschieben, was auch gelang. In einer aus dem Jahr 2013 stammenden Studie des Zentrums für Sicherheitsstudien der ETH Zürich heißt es dazu: „Im 18. Jh., unter Peter dem- und Katharina der Großen, drang die russische Macht nach Westen vor, eroberte die Ukraine im Südwesten und drang bis in die Karpaten vor. Sie verschob auch die russische Grenze nach Westen, indem sie die baltischen Gebiete einbezog und eine russische Flanke an der Ostsee sicherte. Moskau und das Zarenreich waren nun als Russisches Reich bekannt. Doch abgesehen von dem Anker in den Karpaten hat Rußland keine wirklich verteidigungsfähigen Grenzen erreicht.“
„Expandiere so weit wie möglich nach Westen. Halte nicht im Südwesten an, bis du die Karpaten erreicht hast“.
Der ETH-Studie nach zählt folgender Punkt zu den geopolitischen Imperativen Rußlands: „Expandiere so weit wie möglich nach Westen. Halte nicht im Südwesten an, bis du die Karpaten erreicht hast, in der nordeuropäischen Tiefebene mache nie halt. Eine tiefere Durchdringung erhöht die Sicherheit, nicht nur in Bezug auf den Puffer. Die nordeuropäische Tiefebene verengt sich, je weiter man nach Westen kommt, was die Verteidigung erleichtert.“ All diese Punkte hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der sowjetische Diktator Josef Stalin beherzigt. Die Karpatenukraine, die in der Zwischenkriegszeit Teil der Tschechoslowakei war, wurde an die UdSSR angegliedert und bildete den westlichsten Punkt, an dem Moskau Macht weit nach Mitteleuropa projizieren konnte.
Die baltischen Staaten, die 1918 ihre Unabhängigkeit vom russischen Zarenreich erlangt hatten, wurden zu Sowjetrepubliken degradiert, und Polen wurde ein formell unabhängiger Satellitenstaat Moskaus. Was Polen betrifft, ist in der ETH-Studie zu lesen: „Letztendlich ist die letzte effektive Verteidigungslinie die 400-Meilen-Lücke (auch bekannt als Polen) zwischen der Ostsee und den Karpaten.“
Von Polen kam auf EU-Ebene die Initiative zu einer makroregionalen Strategie für die Karpatenregion. In einem Dokument des Europaparlamentes vom Dezember 2019 wird darauf hingewiesen, daß die Karpaten größer seien als die Alpen und sich auf einer Fläche von 190.000 Quadratkilometern von der österreichisch-tschechischen Grenze im Westen bis zur rumänisch-serbischen Grenze im Südosten erstreckten und sich manche Teile der Karpatenregion in einer wirtschaftlich schwierigen Situation befänden. Doch mit der Karpatenstrategie soll nicht nur die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Naturschutz, Energie, Infrastruktur und Verkehr gefördert werden, vielmehr sollen auch die Weichen für einen EU-Beitritt der Ukraine und Moldawiens gestellt werden: „Die EU im Allgemeinen könnte auch im Hinblick auf die europäische Integration profitieren, da die Strategie dazu beitragen würde, künftige Erweiterungen vorzubereiten, die Serbien, ein EU-Kandidatenland, sowie die Ukraine und Moldawien, Nachbarländer der Östlichen Partnerschaft, einbeziehen.“
Mittlerweile zählt die Ukraine zum Kreis der EU-Beitrittskandidaten, während in Moldawien nach wie vor umstritten ist, ob sich das Land nach Westen hin, also zur EU, oder nach Osten, zu Rußland, orientieren solle. Eine Mitgliedschaft in der EU würde dieses osteuropäische Land jedenfalls dauerhaft dem Einfluß Moskaus entziehen.