von Alain Felkel
Das Jahr 1914 endete für die Armeen Österreich-Ungarns in einer Katastrophe. Nach Rückeroberung der vorher von den Russen eingenommenen Festung Przemyśl hatten sich die kaiserlich und königlichen Armeen unter Zurücklassung einer starken Besatzung hinter die Karpaten zurückgezogen. Nun lag Przemyśl vom Feind belagert in etwa 100 Kilometern Entfernung vor der austro-ungarischen Front. Die Festung war das Bollwerk Galiziens. Ihre Waffen, Munitionsdepots sowie ihre Ausmaße waren gigantisch. 130.000 Mann verteidigten sie. Doch es gab eine Achillesferse: Nach Berechnung des Festungskommandanten Feldmarschallleutnant Hermann von Kusmanek reichten die Lebensmittel nur bis März 1915. Wurde die Festung bis dahin nicht entsetzt, mußte die Kapitulation erfolgen. Dies konnte Feldmarschall Freiherr Franz Conrad von Hötzendorf, der Generalstabschef der österreichisch-ungarischen Armee, nicht zulassen, zumal Italien nur darauf lauerte, der Donaumonarchie den Krieg zu erklären. Die kritische Situation erforderte einen Durchbruch der russischen Karpatenfront zur Befreiung Przemyśls, gleichzeitig trachtete Conrad danach, die Bukowina und Teile Südgaliziens zurückzuerobern. Dem k. und k. Heer fehlte es allerdings aufgrund der schweren Verluste der vergangenen Monate an Offensivkraft.
Viribus unitis
Obwohl bereits seit dem Spätherbst 1914 mehrere deutsche Divisionen im österreichisch-ungarischen Abschnitt der Ostfront standen, brauchte Hötzendorf weitere deutsche Verstärkungen für die geplante Karpatenoffensive. Doch genau hier lag das Problem. Der Generalstabschef des Deutschen Heeres, Erich von Falkenhayn, sah Conrads Plan kritisch, zumal die Oberste Heeresleitung ihrerseits einen Offensivschlag in Ostpreußen plante. Er war anfangs kaum dazu zu bewegen, Conrad mehr als eine Division zu unterstellen. Seiner Meinung nach war es Wahnsinn, die gut verschanzten Russen im tiefsten Winter in den unwegsamen Karpaten anzugreifen, wo eine Versorgung der Truppen mit Nahrungsmitteln und Munition kaum möglich war. Doch Conrad setzte sich durch. Er bekam vier weitere deutsche Divisionen, die er mit k. und k. Truppen zur „Südarmee“ zusammenfaßte. Nun konnte der Angriff auf die russischen Karpatenstellungen beginnen.
Conrads Plan sah wie folgt aus: Die Südarmee sollte zusammen mit der westlich von ihr aufgestellten 3. k. und k. Armee die russischen Paßstellungen bei Verecke und Uzsok durchbrechen und die eingeschlossene Festung Przemyśl entsetzen. Die östlich am Dnjestr stehende Armeegruppe des Generals der Kavallerie, Karl von Pflanzer-Baltin, hatte die Aufgabe, die Bukowina zu erobern.
Sturm auf die Karpaten
Im Morgengrauen des 23. Januars 1915 begann in den Karpaten die Offensive der Mittelmächte mit insgesamt gut zwanzig Divisionen, 175.000 Mann und über 1.000 Geschützen. Das Angriffsziel schien gut gewählt. In dem 450 Kilometer breiten, von unzähligen Längs- und Quertälern durchschnittenen Karpatengürtel gab es keine zusammenhängende russische Front. Stattdessen hatten sich die Russen auf die Verteidigung strategisch wichtiger Pässe oder Höhenzüge beschränkt und dort Stützpunkte ausgebaut. Entlang der gesamten Front hob nun ein erbittertes Ringen um Gebirgskämme und Pässe an, das auf beiden Seiten Tausenden von Soldaten das Leben kostete.
Am Duklapaß kam es am 4. Februar 1915 zu heftigen Kämpfen. Ein zeitgenössischer Bericht schildert eindrucksvoll das Scheitern eines russischen Gegenangriffs auf eine österreichische Stellung. Mit Tagesanbruch wälzt sich dann auch eine große russische Kolonne, bis an die Brust im Schnee, die ziemlich steil ansteigenden Berge herauf, die in ihrem obersten Teil in mehreren Staffeln von den österreichisch-ungarischen Streitkräften durch Stacheldrähte, Baumverhaue und Schützengräben befestigt worden waren. Hier wurden die Angreifer mit mörderischem Maschinengewehrfeuer empfangen, das ein furchtbares Blutbad unter ihnen anrichtete. Gleichwohl schoben sich die Russen bis an die Stellung heran, wo sich die Reste der Kompanien in den verschneiten Stacheldrähten verfingen und nun größtenteils vollends niedergeschossen wurden.
Der geschilderte Abwehrerfolg verflüchtigte sich bald. Durch energische russische Gegenangriffe an weiterer Entfaltung gehindert lief sich Conrads Offensive nach der Erstürmung einiger Pässe und Gebirgszüge und der Eroberung der Bukowina im Februar fest, was hauptsächlich an den widrigen Witterungsverhältnissen lag.
Heldentod in Eis und Schnee
Bei eisigen Temperaturen von bis zu minus 25 Grad Celsius ließen heftige Schneestürme die wenigen Paßstraßen und Anfahrtswege in Schnee versinken. Die schwere Artillerie blieb auf den Straßen in Schneewehen stecken. Geschütze, die sich in vorderster Front befanden, konnten die russischen Stellungen nicht unter Feuer nehmen, weil Schneegestöber und Nebel jegliche Sicht auf die feindlichen Stellungen nahmen. Die Infanterie mußte allein die Hauptlast der Kämpfe tragen – eine mörderische Aufgabe. Tausende versanken beim Aufstieg zu den feindlichen Stellungen bis zur Brust im tiefen Schnee. Schweißgebadet kamen sie nur unter Aufbietung aller Kräfte frei. Eisige Winde wehten durch die vor Anstrengung dampfenden Körper, die größtenteils noch Sommeruniformen trugen. Eisbärte legten sich in Sekundenschnelle auf frosterstarrte Gesichter; Schuhe und Stiefel waren ständig naß.
Kam es zum Kampf, mußten die Infanteristen ihre steifgefrorenen Hände und Gewehre auftauen. Wurde es Nacht, biwakierten sie bei klirrender Kälte unter freiem Himmel im Schnee, weil es an festen Unterkünften und Zelten fehlte. Auf diese Weise erfroren bzw. erkrankten Zehntausende. Die Lage war so verzweifelt, daß viele Soldaten den Freitod wählten, zumal ab Mitte Februar der Nachschub zusammenbrach. Verwundete und Kranke konnten nicht abtransportiert werden. Die 3. Armee verlor binnen drei Wochen mehr als die Hälfte ihrer Kräfte. Obwohl diese Verluste durch neue Mannschaften ersetzt wurden, scheiterten zwei Wiederaufnahmen der Offensive genauso kläglich wie die erste. Diesmal hatten nicht Schnee, sondern einsetzendes Tauwetter die Offensivbewegungen in Schlamm versinken lassen.
Przemyśl – das Stalingrad Galiziens
Der Gegenschlag der Russen ließ nicht lange auf sich warten. Am 19. März 1915 gingen die 8. und die 12. russische Armee, verstärkt durch 21 Infanteriedivisionen und 14 Kavalleriedivision der 11. Armee, zum Großangriff auf die Stellungen der Mittelmächte in den Karpaten über. Das Ziel der Russen war der Durchbruch nach Ungarn. Die russische Offensive traf die bereits schwer angeschlagenen k. und k. Armeen hart. Dabei wandten die Russen eine neue Angriffstaktik an. Statt den Feind mit Scheinangriffen zu fesseln und von der Flanke her aufzurollen oder ihn einfach zu umfassen, griffen die Russen die Stellungen der Mittelmächte frontal in mehreren dicht aufeinanderfolgenden Angriffswellen an. Diese, später als „Karpatentaktik“ bekannt gewordene Angriffsweise war sehr verlustreich und hatte kaum Erfolg. Im großen und ganzen hielten die Mittelmächte ihre Stellungen.
Der Offensivdruck der Russen an der Karpatenfront bewirkte jedoch, daß Conrad jeglichem weiteren Entsatzversuch Przemyśls entsagte. Schweren Herzens gab der Generalissimus Kusmanek Anweisung, sich entweder mit der Besatzung zu den Karpaten durchzuschlagen oder nach Zerstörung der Festungswerke und Waffen sowie Sprengung der Munitionsvorräte zu kapitulieren. Kusmanek versuchte daraufhin am 19. März einen Ausfall, der jedoch scheiterte. Nun blieb ihm nichts anderes als die Kapitulation übrig. Am 22. März 1915 fiel das Bollwerk am San. Es war eine Niederlage, die in ihrer Größenordnung der späteren Katastrophe der 6. Deutschen Armee bei Stalingrad gleichkam und ein Schock für die Bevölkerung der Doppelmonarchie. 120.000 Mann ergaben sich, hunderte Geschütze sowie Tonnen und Tonnen von Munition und Nachschub gingen verloren. Besonders schwer wog, daß das russische Belagerungsheer sofort an die Karpatenfront geworfen wurde und die russische Offensive von neuem befeuerte.
Entsetzliche Bilanz auf beiden Seiten
Obwohl die Russen weiterhin alles daran setzten, bis nach Ungarn vorzustoßen, schlugen die Verbündeten alle Angriffe in den Karpaten zurück, bis die Kämpfe Mitte April abebbten. Die Karpatenschlacht war geschlagen. Während des apokalyptisch anmutenden Gemetzels in Eis und Schnee hatte die Donaumonarchie etwa 800.000 Mann verloren, drei Viertel davon waren erfroren oder verhungert.
Die russischen Gesamtverluste betrugen etwa eine Million Mann. Trotzdem war dem Zarenreich ein Erfolg beschieden. Es hatte die strategische Initiative behalten und die Mittelmächte an der Ostfront in die Defensive gedrängt. Conrads Plan war nicht aufgegangen. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Italien in den Krieg eintreten würde. Besonders schwer wog der Umstand, daß von nun an immer mehr deutsche Truppeneinheiten ins Kriegsgeschehen an der österreichisch-ungarischen Front eingriffen und Österreich zum Juniorpartner des Deutschen Reiches wurde.