von Roland Girtler
Vorbemerkung
Der Bitte, einen Aufsatz über die sogenannten Karpatendeutschen und deren Geschichte zu verfassen, komme ich gerne nach, da ich mich mit einem ähnlichen Thema über einige Jahrzehnte hindurch beschäftigt habe, nämlich mit der Geschichte der Landler und Sachsen in Siebenbürgen; mit Studentinnen und Studenten der Universität Wien fuhr ich etwa dreißig Jahre lang Jahr für Jahr nach Großpold, einem Dorf bei Hermannstadt, um die Geschichte und Kultur der Landler und Sachsen zu erforschen. Ich schrieb darüber auch einige Bücher wie Die Landler in Rumänien und Das letzte Lied von Hermannstadt. Vor diesem Hintergrund interessierten und interessieren mich auch die Karpatendeutschen.

Anfänge, Mongolensturm und Siedlungsgebiete
Besiedelt wurde das Gebiet der heutigen Slowakei, welches damals Bestandteil des ungarischen Königreiches war, vom 12. bis zum 15. Jh., vor allem jedoch nach dem sogenannten Mongolensturm von 1241. Das große Glück für Polen und Deutsche war es, daß die Mongolen trotz ihres Sieges nicht weiter nach Nordwesten vorstießen. Jedenfalls dürfte die Gegend nach den Mongolenkämpfen ziemlich menschenleer gewesen sein. Die ungarischen Könige holten daher Handwerker und Bergleute aus deutschen Landen in die Karpaten, die tüchtige Arbeit leisteten. Damals bis in das 15. Jh. hinein bestand die Führungsschicht der nordungarischen Städte in der heutigen Slowakei fast ausschließlich aus Deutschen.
Man spricht von drei Hauptsiedelungsgebieten entlang der Karpaten, die von Deutschen besiedelt wurden: Es ist dies zunächst Preßburg und Umgebung, dazu kommen die deutschen Sprachinseln Zips und Hauerland in der Mitte der Karpaten, benannt nach den Hauern, also den Bergleuten. Es ist ungeklärt, woher der Name Zips kommt. Manche Gelehrte meinen, daß in diesem Namen das altslawische Wort „pichjati“ für schneiden bzw. roden steckt. Mir scheint diese Erklärung einleuchtend.
Das Drama der Weltkriege
Nach 1918 veränderte sich die Situation für die Karpatendeutschen grundlegend, denn mit der Erhebung Preßburgs zur Landeshauptstadt und dem Zustrom an Slowaken wurden die Deutschen – trotz des Wegzuges vieler Ungarn – zu einer Minderheit. In den anderen Siedlungsgebieten ging es ähnlich vonstatten.
Etwa zweieinhalb Jahrzehnte später flüchteten die meisten Karpatendeutschen bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus der Slowakei ins Deutsche Reich oder wurden von den deutschen Behörden dorthin evakuiert. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion auf den slowakischen Nationalaufstand im Spätsommer 1944, bei dessen Niederschlagung von den Partisanen Grausamkeiten an Deutschen, aber auch von der SS an Slowaken verübt wurden. Aus der Zips sind die meisten Deutschen zwischen Mitte November 1944 und dem 21. Januar 1945 dank der Unterstützung der evangelischen Kirche vor der heranrückenden Roten Armee nach Deutschland oder in das Sudetenland übersiedelt worden. Die Deutschen von Preßburg bzw. Bratislava wurden im Januar und Februar 1945 nach langen Verzögerungen evakuiert, jene des Hauerlandes flüchteten Ende März 1945. Nach Ende des Krieges am 8. Mai 1945 war zunächst etwa ein Drittel der evakuierten und geflüchteten Deutschen in die Slowakei zurückgekehrt. Ab dem 2. August 1945 wurde ihnen jedoch – zusammen mit den Sudetendeutschen und mit den Ungarn in der Südslowakei – durch das Beneš-Dekret Nr. 33 die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit aberkannt. Sie wurden nun in Sammellagern interniert. 1946/47 sind schließlich etwa 33.000 Deutsche als Folge des Potsdamer Abkommens aus der Slowakei vertrieben worden, während ca. 20.000 Personen infolge besonderer Umstände in der Slowakei bleiben konnten. Von rund 128.000 Deutschen in der Slowakei im Jahre 1938 sind also 1947 nur etwa 20.000 geblieben.
Von der „samtenen Revolution“ in die Gegenwart
Heute leben nach einer Volkszählung weniger als 6.000 Deutsche in der Slowakei, die aber seit der samtenen Revolution sämtliche politischen Rechte genießen. Unter „samtene Revolution“ wird der politische Systemwechsel der Tschechoslowakei vom Realsozialismus zur Demokratie im November und Dezember 1989 verstanden. Der Begriff wurde gewählt, weil der Wechsel, der sich innerhalb weniger Wochen vollzog, weitgehend gewaltfrei erfolgte.
Heute gibt es immer noch zwei karpatendeutsche Orte, Hopgarten und Metzenseifen. In Hopgarten ist die Einwohnerschaft noch mehrheitlich deutschsprachig, in Metzenseifen und weiteren Orten der Unterzips wird noch die Zipser Mundart gesprochen – siehe dazu die schöne Arbeit von Eva Škultétyová Karpatendeutsche im Hauerland; in meinen folgenden Hinweisen beziehe ich mich vor allem darauf.

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Aus dem Alltag der Karpatendeutschen in alter Zeit – Bräuche, Kleidung, Speisen
In der alten Sprache der Karpatendeutschen gibt es die Bezeichnung „Lutza“, was soviel wie böses Weib oder Hexe bedeutet. Die „Lutzen“ gingen am Abend des 13. Dezembers mit Strohbändern behangen und hinter Gesichtsmasken von Haus zu Haus, um die Kinder zu erschrecken und zu strafen. Der Heilige Abend war bei den Karpatendeutschen ein strenger Fastentag, man aß tagsüber nur wenig. Auf dem festlich bedeckten Tisch brannte in der Mitte die geweihte Kerze. Auf dem Nebentisch fanden sich alle Früchte des Jahres: Roggen, Weizen, Hafer, Gerste, Nüsse, Äpfel, Kartoffeln, dazu Brot. Nachdem man sich zum Abendbrot gesetzt hatte, eröffneten ein gemeinsames Gebet und ein Lied den Abend. Man trank ein Gläschen ,,Prombei“ – Branntwein, mit Zucker gesüßt und gebräunt –, jeder erhielt ein Stück vom Apfel, dessen Kerne nicht angeschnitten werden durften, weil es Unglück für das nächste Jahr verhieß. Der Ostermontag wiederum war der Tag für die Jugend. Burschen und Männer begossen an diesem Tag Frauen, Mütter, Schwestern, Freundinnen, Nachbarmädchen und Bräute mit Wasser und peitschten sie aus. Dies sollte Glück bringen.
Verheiratete Frauen trugen eine Nackenhaube, die in der Mitte ein geblümtes oder mit farbiger Seide gesticktes Haubenfleckchen oder ein mit Gold- oder Silberfäden gesticktes Samtfleckchen zierte. Goldene oder silberne Hauben wurden nur zu festlichen Anlässen getragen und waren ein Zeichen des Familienstandes. An der Bekleidung der Männer ist vor allem im Hauerland ein starker Einfluß der Bergmannstracht zu sehen. Das Hemd hatte keinen Kragen, am Hals wurde es mit einem Bändchen geknüpft. Um die Schultern wurde ein dunkler, mit Schnüren und Silberknöpfen verzierter Umhängepelz (Mentäke) geworfen.
Die Ernährung der Karpatendeutschen baute auf alten Traditionen auf. Im allgemeinen dominierten bei der Zubereitung eines Mahles Zutaten pflanzlicher Herkunft. Die angepflanzten Grundarten des Getreides waren Gerste, Weizen und Roggen. Aus Weizenmehl der ersten Qualität wurden Kuchen gebacken, aus Roggenmehl Brot. Kleie verwendete man als Futter für die Schweine.
Gemüse war wesentlicher Bestandteil der alltäglichen Nahrung. Man konsumierte es roh, gekocht oder als Eingesottenes. Gemüsegerichte wurden in größerer Menge vor allem auch während der Fastenzeit gegessen. Einen bedeutsamen Anteil der alltäglichen Kost bildeten Hülsenfrüchte. Es wurden vor allem Bohnen oder Erbsen angebaut. Man kochte dicke Suppen, Breie und Tunken. Wurzelgemüse wurde als Zutat den Fleisch- und Hülsenfruchtgerichten ergänzt. Zwiebel und Knoblauch hatten einen vielseitigen Gebrauch in der Küche. Die am häufigsten verwendete Gemüsesorte war Sauerkraut. Es wurde ungekocht konsumiert, gedünstet wurde Sauerkraut zum Fleisch oder als Beilage zur Mehlspeise serviert. Man baute auch Kürbis, rote Rüben, Kohlrüben oder Zuckerrüben an. Kartoffeln wurden früh ein wichtiges Nahrungsmittel. In den Gebieten, wo wenig fruchtbarer Boden war, ersetzten Kartoffeln das Brot. Man kochte aus Kartoffeln zum Beispiel Kartoffelbrei (,,Kasche“) oder gebackene Kartoffeln mit Butter. Zu solchen Gerichten trank man gewöhnlich Sauermilch. Kartoffeln fanden sich nicht nur in Suppen, sondern auch in Mehlspeisen, damit mehr Mehl übrigblieb. Lebensmittel tierischer Herkunft wie Fleisch, Milch, Käse, Eier und Fette waren überwiegend aus eigener Aufzucht. Fleischgerichte wurden selten gekocht, meist an den Festtagen oder zu Familienzeremonien.
Ein übliches Getränk war Wasser aus dem Brunnen oder der Quelle. Neben der süßen oder sauren Milch trank man Buttermilch, Molke oder Milchwasser. Man trank auch Malz- oder Gerstenkaffee; Tee wurde nur in Form von Heilkräutern als Arzneimittel gebraucht. Von den alkoholischen Getränken wurde vor allem Branntwein (Pflaumenschnaps, Kornschnaps) oder der erwähnte Prompai getrunken. Was den Wein betrifft, so trank man Obst-, Johannisbeer- und Apfelwein.
Zweimal sieben Bergstädte, ein König und Deutschlands reichster Mann
Seit dem 13. Jh. luden die ungarischen Könige deutsche Fachleute ein, ins Land zu kommen, denn sie waren fähig, wertvolle Erze sachkundig zu fördern. Bergleute aus Kärnten und dem Harz, aus Böhmen und Mähren kamen und errichteten die sieben ,,niederungarischen Bergstädte“ im Hauerland und die sieben ,,oberungarischen Bergstädte“ in der Zips. Besonders die sieben ,,niederungarischen Bergstädte“ Kremnitz, Schemnitz, Neusohl, Dilln (Banská Belá), Pukanz (Pukanec), Königsberg (Nová Baňa) und Libethen (Ľubietová) spielten in der Vergangenheit in der Mittelslowakei eine wichtige Rolle. Die Bergstädte – das ,,goldene Kremnitz“, das ,,silberne Schemnitz“ und das ,,kupferne Neusohl“ – waren in ihrer Blütezeit im 14.-16. Jh. die Grundlage der Geldwirtschaft in ganz Ungarn.
Viel Geld benötigte König Ladislav II. Er wandte sich daher an den damals reichsten Mann Deutschlands, an Jacob Fugger, dem der König seine ,,oberungarischen Bergstädte“ gab. Die Lagerstätten waren in der damaligen Zeit nur wenig profitabel, deswegen suchte Fugger einen technisch und organisatorisch begabten Verbündeten, den er in Johan Thurzo aus der Zips fand. Die beiden gründeten ein Bergbauunternehmen, das mit Fuggers Geld und Thurzos Erfahrungen bessere Bedingungen für die Verwertung der Bodenschätze bot. Besondere Bedeutung für den Bergbau hatte die erste Montanhochschule der Welt, die 1762 in Schemnitz gegründet wurde.
Das Handwerk blühte in den Städten der Karpatendeutschen.
Grundsätzliche Veränderungen in der handwerklichen Erzeugung hängen mit der prägenden deutschen Besiedelung der Slowakei und den Städtegründungen zusammen. Der persönlich freie städtische Handwerker ersetzte den mit der Landwirtschaft verbundenen Dorfhandwerker. Die Bezeichnungen für handwerkliche Geräte, Arbeitsverfahren und Produkte stammen daher ursprünglich aus der deutschen Sprache. In den deutschen Orten des Hauerlandes hatte das Handwerk große Bedeutung. Kremnitz war eines der Hauptzentren der handwerklichen Fertigung in der mittelalterlichen Slowakei. In Schemnitz gab es wegen des hochentwickelten Bergbaus eine Vielzahl von Schmieden (siehe u.a. Geschichte und Kultur der Karpatendeutschen von Ondrej Pöss) Eine bedeutende Handwerksstadt des Hauerlandes war Deutsch-Proben. In Kremnitz und Kuneschau arbeiteten Ende des 19. Jh. mehr als 250 Klöpplerinnen, ihre Waren wurden nach ganz Europa exportiert.
Die Mundart der Karpatendeutschen
Die Siedler, die das slowakische Land im Mittelalter bevölkerten, sprachen ein mittelalterliches Deutsch, welches als ,,Mittelhochdeutsch“ bezeichnet wird. Die deutsche Mundart von Preßburg und Umgebung stimmte im wesentlichen mit der bayrisch-österreichischen Sprachlandschaft überein. In den Oberzipser Mundarten spürt man rheinfränkische und ostmittelhochdeutsche Elemente. In der Unterzips und im Bodwatal sind bayrische Elemente bemerkbar. Schon in den Anfängen der deutschen Kolonisation kam es zu einer außerordentlich interessanten sprachlichen Entwicklung. Da die Bewohner kaum Kontakt mit dem Mutterland hatten, behielten sie alte dialektale Formen bei.
„Und sind wir heut auch fern von dir, das Herz bleibt dir verbunden.“
Das Schicksal der Karpatendeutschen war, wie ich oben angezeigt habe, ein interessantes, ein spannendes. Europäische Geschichte ist mit den Karpatendeutschen verbunden. Aber es gibt auch betrübliche Erinnerungen: Viele Unschuldige wurden nach dem letzten Krieg vertrieben oder kamen ums Leben. Schließlich hat man aber eingesehen, daß Menschen und Kulturen voneinander lernen können, zum Vorteil aller. Verborgene Schönheiten werden einem jetzt bewußt, sowohl bei den Karpatendeutschen, als auch bei den Slowaken.
Ich schließe meinen Aufsatz mit einem Gedicht von Hanni Würch-Nikles, das ich in der Arbeit von Frau Magistra Eva Škultétyová gefunden habe:
Hauerland – mein Heimatland,
man kennt wohl deinen Namen,
doch wer weiß, wie schön die Wälder sind,
die rauschend dich umrahmen?
Und sind wir heut auch fern von dir –
das Herz bleibt dir verbunden –
über Grenzen und die Zeit hinweg
woll´n wir dies stets bekunden.
Hauerland – mein Heimatland,
dem Erbe unsrer Ahnen –
der Welt, die allzuschnell vergißt,
gilt unser Ruf und Mahnen.
Über den Autor:
Roland Girtler, geb. 1941 in Wien, Dr. phil., Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien, aufgewachsen als Sohn eines Landarztes und einer Landärztin unter Bergbauern, Holzknechten, Sennerinnen und Wildschützen im oberösterreichischen Gebirge in Spital am Pyhrn. Forschungen in indischen Bauerndörfern und in den Slums von Mumbai, in städtischen Randkulturen, bei Bauern, Wilderern, Ganoven, feinen Leuten, Dirnen, Pfarrerköchinnen, Tierärzten u.a.; zahlreiche Buchveröffentlichungen.