von Fritz Simhandl
Der Beruf als Berufung für die menschliche Existenz und die sinnstiftende Arbeit sind keineswegs nur materiell zu bewertende Daseinsformen in Gesellschaft und Wirtschaft einst und jetzt. Ganz im Gegenteil, im Beruf als Handwerk im ursprünglichen Sinn liegt die existenzialistische Bewältigung des menschlichen Daseins, das zugleich eine tiefe mystische und damit überzeitliche Verortung hat. Diese Verortung in der Mystik und der Transzendenz kann man erfahren, wenn man Handwerker beobachten und Handwerke bestaunen darf. Viele traditionelle Handwerke und Berufe sind ausgestorben, wie etwa die des Barometermachers oder des Reifendrehers. Andere Handwerke haben sich aus einem Urhandwerk weiterentwickelt. Diese Urhandwerke sind zugleich die Fundamente unseres menschlichen Daseins und unseres gesellschaftlichen Zusammenwirkens in einer sich arbeitsteilig entwickelnden Welt. Alle Urhandwerke haben sich aus der Existenz der Menschen als Jäger und Sammler und in einer weiteren Entwicklungsstufe aus jener der Landwirte entwickelt. Ein solches Urhandwerk ist das Tischlerhandwerk.
Aktuell zählt die in der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) organisierte Innung der Tischler und Holzgestalter neben den Tischlern die Bootbauer, die Modellbauer, die Parkettleger, die Hobelwerke, die Stabzieher, die Kehlleistenerzeuger, die Galanterietischler, die Intarsienschneider, die Rolladen- und Jalousieerzeuger und die Kistentischler. Zu den Holzgestaltern gehören darüber hinaus die Bildhauer, die Binder, die Bürsten- und die Pinselmacher, die Drechsler, die Korb- und die Möbelflechter sowie die Spielzeughersteller. Gegenwärtig beträgt die Anzahl der in Österreich aktiven Betriebe immerhin noch rund 11.000 Unternehmen. Aktuell gibt es die Berufsausbildung „Tischlereitechnik“ als Lehrberuf und damit als Zugang zum allgemeinem Tischlereihandwerk. Von den per Ende 2023 durch die WKO in ihrer Statistik ausgewiesenen 11.225 Tischlerhandwerksbetrieben sind 1.571 auch Lehrausbildungsbetriebe. Sie bildeten 2023 insgesamt 2.267 Lehrlinge aus. Im selben Jahr wurden österreichweit 787 Lehrabschlußprüfungen absolviert.
Holz als das mystische „Fünfte Element“
Das verbindende Element hinter all diesen Berufen war und ist der zu bearbeitende Werk- und Baustoff Holz. Zwischen dem Holz und den Menschen, die es bearbeiten, gibt es eine einzigartige Symbiose, die man bei der Arbeit und in den Werkstücken spüren kann. Holz ist ein Werk- und Baustoff, zugleich aber auch das mystische „Fünfte Element“ in unserer Geistes- und Verstandeswelt. Dazu wird Holz, im Unterschied zu anderen Materialien, aufgrund seiner Eigenschaften als natürlich, als organisch und als inhomogen gesehen. Das macht seine Einzigartigkeit aus und ist gleichzeitig die Grundlage für die Vielfältigkeit seiner Be- und Verarbeitung durch Tischler und andere Holzberufe.
In der chinesischen „Fünf-Elemente-Lehre“ steht das Holz – chinesisches Schriftzeichen dafür ist Mu – für eine lebendige, wachsende Pflanze. Dieses Schriftzeichen zeigt eine Pflanze mit Wurzeln, die den Erdboden durchbricht. Bei den Jahreszeiten wird dem Holz der Frühling zugeordnet, als Tageszeit der Morgen und als Himmelsrichtung der Osten; bei der Bewertung seiner Energiequalität der Aufbruch, die Bewegung, die Dynamik, die Kraftentfaltung und der Neubeginn. Im Bezug auf den Menschen – und da wiederum auf den Holzbearbeiter – mündet die Energie des Holzes in Aktivitäten, Pläne und Zukunftsträume. Die chinesische „Fünf-Elemente-Lehre“ steuert mit den weiteren Elementen Erde, Feuer, Metall und Wasser alles bei, womit das Holz durch den Menschen als Tischler seit Anbeginn bearbeitet wurde.
Der Zimmermann Josef als „Heiliger Josef der Arbeiter“
In den christlichen Religionen treffen wir im Neuen Testament auf den Bräutigam und späteren Ehemann der Gottesmutter Maria, Josef, den Zimmermann aus Judäa. Das Neue Testament in seiner griechischen Version gibt den Beruf Josefs mit der Bezeichnung tekton an – die Beschreibung für einen Bauhandwerker, der in diesen frühen Zeiten die Bearbeitung von Holz und Steinen zu verrichten hatte. Dem Heiligen Josef werden in der christlichen Überlieferung die Tugenden der Authentizität, der Demut, der Einfachheit, des Fleißes und des Gehorsams zugeordnet – alles Tugenden, die einem rechtschaffenen Handwerker zu Ansehen und Erfolg verhelfen können. Papst Pius XII. führte im Jahre 1955 als katholische Antwort auf den weltweit am 1. Mai begangenen „Tag der Arbeit“ einen christlichen Gedenktag für den „Heiligen Josef der Arbeiter“ ein. Als Patron der Arbeiter, insbesondere der Holzfäller und der Zimmermänner, sollte Josef hier verortet und sichtbar gemacht werden.
Gelernte Tischler als Industrielle, Philosophen, Kabarettisten und Hollywoodstars
Die historische Figur des Heiligen Josefs als Tischler ist aber keineswegs eine singuläre Erscheinung. Viele berühmte Persönlichkeiten hatten ihre beruflichen Wurzeln in der Tischlerei. Neben dem berühmten Möbelfabrikanten Michael Thonet sind hier etwa der österreichische Philosoph Sir Karl Popper, der bayrische Kabarettist und Schauspieler Karl Valentin oder der US-Filmstar Harrison Ford zu nennen. Michael Thonet (1796-1871) war nicht nur Tischlermeister, sondern auch Gründer und Eigentümer der Gebrüder Thonet Bugholzmöbel-Fabrik in der seinerzeitigen Reichs- und Residenzstadt zu Wien. Vom Tischlermeister entwickelte er sich zum Möbeldesigner und Möbelfabrikanten weiter und war der Vater der industriellen Holzbiegetechnik, die zu einer weltweiten Erfolgsgeschichte in Zeiten der industriellen Revolution Mitte des 19. Jh. heranreifte. Der österreichische Philosoph Sir Karl Popper (1902-1994) absolvierte ebenfalls die Tischlerlehre und machte im Jahre 1924 den Gesellenbrief in diesem Urhandwerk. Mit der Begründung des Kritischen Rationalismus’ schuf der Tischlergeselle Popper eine neue philosophische Denkschule. Der bayrische Kabarettist und Schauspieler mit dem Künstlernamen Karl Valentin (1882-1948), geboren als Johann Valentin Fey, absolvierte in München eine Schreiner- und Tischlerlehre und war bis 1901 als Facharbeiter in diesem Beruf tätig. Und da der Schauspieler Harrison Ford in seiner ursprünglichen Profession als Tischler sehr gefragt war, konnte er es sich leisten, rund zehn Jahre lang kleinere Rollen abzulehnen. Erst Mitte der 70er-Jahre kamen sein Durchbruch und seine bis heute anhaltende Erfolgsserie.
„Das Schicksal setzt den Hobel an…“ – Weltkulturerbe für das Tischlerhandwerk
Aber auch im künstlerischen Liedgut findet sich das Urhandwerk des Tischlers auf höchstem Niveau wiedergegeben. Denken wir nur an das Hobellied des hervorragenden Dichters Ferdinand Raimund aus dem Jahre 1834, das als Wiener Couplet untrennbar mit der Biedermeierzeit und ihrer Rezeption in der Erinnerung als Volksweise und Wienerlied verknüpft ist. Ferdinand Raimund, Sohn eines Drechslers, ist 1836, also nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Der Verschwender durch Selbstmord schwermütig aus dem Leben geschieden. Raimund hat mit der Wiedergabe des oft ärmlichen und in beschränkten Haushaltsverhältnissen stattfindenden biedermeierlichen Handwerkeralltags im Text ein Weltkulturerbe für das Urhandwerk der Tischler hinterlassen: „Oft zankt mein Weib mit mir, oh Graus! / Das bringt mich nicht in Wut. / Da klopf’ ich meinen Hobel aus / und denk: Du brummst mir gut!“. Und als Gemeingut des einfachen Volkes in den deutschen Landen gilt bis heute als unvergeßlich die Zeile „Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich“. Keine Textzeile könnte trefflicher die schicksalshafte Verwobenheit des Tischlerhandwerks mit dem Fortgang des Lebens jedes einzelnen wiedergeben.
Museale Bewahrung des Erbes eines Urhandwerks von Bremen bis Niederösterreich
Im deutschen Sprachraum gibt es in der Hansestadt Bremen, in Eisleben/Sachsen-Anhalt und in der niederösterreichischen Stadtgemeinde Pöchlarn Tischlereimuseen. Das „Erste Österreichische Tischlereimuseum“ ist ein Paradebeispiel für die museale Vermittlung traditionellen Handwerks. Der Schwerpunkt dieses Museums liegt auf den Holzhandwerksberufen Drechsler, Faßbinder, Tischler und Zimmermann. Traditionelle Werkzeuge, alte gewerbliche Kleinmaschinen, Intarsien und Kleinmöbel und die Anwendung der alten Bearbeitungs- und Herstellungstechniken sind die Schwerpunkte dieses Hauses. Das von der Bremer Tischlerinnung geführte Tischlermuseum im Stadtteil Ostertor zeigt in einer Maschinenhalle knapp zwei Dutzend historischer Holzbearbeitungsmaschinen, die noch aus der Zeit vor 1900 stammen und immer noch voll funktionsfähig sind. Das Tischlereimuseum Eisleben/Sachsen-Anhalt präsentiert in einem alten Fachwerkhaus eine alte Tischlerei, eine Böttcherei, eine Zimmerei, eine Drechslerei und eine Stellmacherei. 1995 erfolgte die Einrichtung einer historischen Werkstatt, 1998 zog man dann in das alte Fachwerkhaus eines Bauernhofes. Die Grundlagen des privat durch die Familie Timme geführten Eislebner Tischlereimuseums liegen im Jahre 1965 in einer Sammlung von Hobeln. Das führt uns zurück zum Hobellied, das wohl als deutsche Volkshymne des Tischlereihandwerks gilt und die schönste musikalische Verneigung vor diesem Urhandwerk darstellt. Und bei jedem Arbeitsschritt an der Hobelbank schwingt die Mystik des Werkstoffes Holz mit.