von Susanne Dagen
Die Alltagskleidung als Bekenntnis zur Individualität verrät die Kenntnis gesellschaftlicher Spielregeln. Das war auch in der DDR nicht anders, dort allerdings durch ideologische Grundierung und die Attraktivität westlicher Bekleidung und Lebensformen noch zusätzlich aufgeladen. Die wirtschaftliche Lage der DDR erlaubte keine ausreichenden Importe von textilen Stoffen und Waren, sodaß die improvisierte Kreativität hier vor allem durch den bestehenden Mangel und vom Wunsch nach etwas Eigenem bestimmt wurde. Das Tragen von Jeans war noch bis in die frühen 70er-Jahre hinein verpönt und konnte zum Schulverweis führen.
Ab 1978 wurden eigene, allerdings ungeliebte Marken wie „Shanty“, „Wisent“, „Elpico“ und „Boxer“ geschaffen oder eigene Textilstoffe wie der Lederersatz „Lederol“, „Präsent 20“, „Dederon“, „Wolpryla“ und „Grisuten“ entwickelt, um mit preiswerten Fasern den Bedürfnissen der DDR-Bevölkerung nach moderner Bekleidung zu entsprechen.
Die beliebte Modezeitschrift Sibylle, schon 1956 für die eigenständige sozialistische Frau gegründet, beschäftigte Models und vor allem einen Stamm berühmter Fotographen wie Roger Melis, Günter Rössler oder Sibylle Bergmann, die noch heute für das künstlerische Segment der Modefotographie stehen. „Ich verspreche Ihnen, daß ich meine Augen überall haben werde – in Prag und Florenz, in Warschau und Wien, in Moskau und New York, in Peking und London – und immer wieder in Paris. Natürlich weiß ich sehr gut, daß Sie in der Vergangenheit ein wenig, na, sagen wir: stiefmütterlich behandelt worden sind. Da gab es nicht immer das zu kaufen, was Sie wollten, und was es zu kaufen gab, wollten Sie nicht…“, schreibt die Namensgeberin der Sibylle in der ersten Ausgabe. Zudem war Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur auch ein Magazin für Kunst, Literatur, Reisen, Theater, sowie für Porträts, Essays und Interviews. Die mitgelieferten Schnittmuster ihrerseits waren praktikabel und bis zur Einstellung der Zeitschrift 1994 anspruchsvolle Inspiration.
Denn wer sich individuell kleiden wollte, war auf eigene handarbeitliche Fähigkeiten oder auf Fachleute angewiesen. Der Gang zur Maßschneiderin galt daher nicht als grundsätzlich exklusiv, denn auch da mußten nicht selten Stoffe und Schnittmuster, letztere zumeist aus eingeschmuggelten westdeutschen Zeitschriften, mitgebracht werden. Vor allem zeigte sich aber hier der Wunsch, aus dem uniformiert-sozialistischen Modemuster auszubrechen.
Ab den Siebzigern entstanden sogenannte „Exquisit“-Läden, die hochpreisig und in kleiner Auflage eigene Kollektionen anboten, die von einer Handvoll „volkseigener“ Designer entwikkelt wurden. Später boten diese Läden auch Accessoires und Schuhe an, und ich erinnere mich an dort erworbenen Modeschmuck, den ich zu meiner „Jugendweihe“ im Jahr 1986 trug und der bis heute nicht an Qualität verloren hat. Zu diesem Anlaß wiederum zeigte sich, wer in den schon 1967 etablierten Geschäften der „Jugendmode“ – die erste Kollektion von 1968 nannte sich „kess und farbenfroh“ – umging, wessen Eltern im „Exquisit“ einkaufen konnten und wer schon in der 8. Klasse seinen Drang nach Individualität selbst am politisch ambitionierten Feiertag „Jugendweihe“ der sozialistischen Jugend nicht bremsen konnte. Der Großteil der schmächtigen Jungs trug denselben hellblauen Anzug aus der „Jugendmode“, die Mädchen wurden in gerüschte Bluse und Rock gesteckt, und nur ich trug einen weinrot gefärbten, tailliert geschneiderten Anzug, dessen Hose mit wilden Farbschwüngen bemalt war. Meine Mutter war damals Leiterin einer Galerie des Staatlichen Kunsthandels und hatte Kontakt zu Künstlern, die ohne Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler wenigstens Kleidungseinzelstücke fertigen und verkaufen durften.
Wer individuelle Kleidung trug, zeigte sich offen als gegen die staatliche Doktrin eingestellt und war für die stets berichterstattenden „Organe“ sofort markiert.
Dennoch war die Szene derer, die mit eigenen Kreationen auf subversiven Modenschauen in Privatwohnungen und Hinterhöfen überall in der kleinen Republik sichtbar wurden, relativ groß. Und gerade die 80er-Jahre ließen den Unmut über politische Einflußnahme auch über die Bekleidung deutlich werden, sodaß selbst geschneidert und wild gefärbt sowie Altes oder gerne auch fest gewebte Berufsbekleidung entsprechend umgearbeitet wurde. Im Rückblick komme ich auch hier zu dem Schluß, daß die Bekleidung aus der Zeit meines Aufwachsens weitaus mehr Ausdruck des jugendlichen Aufbegehrens war als die heutige Konsumbesessenheit im ewig Gleichen.