von Roland Girtler
Als Sohn eines Landarztehepaares im oberösterreichischen Gebirge – und zwar in Spital am Pyhrn, im östlichen Teil des Salzkammergutes – habe ich das alte Bergbauernleben und seinen Wandel sehr intensiv wahrgenommen und schrieb darüber u.a. in meinen Büchern Aschenlauge und Sommergetreide. Ich begleitete meinen Vater und meine Mutter – sie war die erste Ärztin dieser Gegend – bei ihren Krankenbesuchen zu den hochgelegenen Bauernhöfen und half als Bub mitunter den Bauern bei ihren Arbeiten im Heu oder als Kuhhirte. Die alten Bauern, die autark waren, gibt es nicht mehr. Die modernen Bauern sind von Förderungen abhängig und wurden zu Spezialisten, zum Beispiel zu Milchlieferanten oder zu Schweinezüchtern. Die frühere bäuerliche Arbeit am Feld, im Stall und im Wald war eine harte Arbeit, sie hatte aber auch ihren Zauber.
Der moderne industrielle Mensch orientiert sich fest an der Zukunft, die Gegenwart ist uninteressant.
Die alten bäuerlichen Kulturen waren beharrlich, man lebte für Anbau und Ernte von Jahreslauf zu Jahreslauf. Dieses bäuerliche Denken unterscheidet sich wesentlich von dem Denken des Menschen im modernen Industrie- und Geschäftsleben, das sich an die Regeln der Pünktlichkeit, die zuweilen mit der Stechuhr kontrolliert wird, zu halten hat. Es ist das Tempo, das das Leben bestimmt, es steht im Widerspruch zu dem sich zyklisch wiederholenden Leben der alten Bauern und ihrer Höfe. Der moderne industrielle Mensch kämpft um Rekorde, sowohl beim Sport als auch in der Wirtschaft, und orientiert sich fest an der Zukunft. Die Gegenwart ist uninteressant, sie ist durch neue Techniken und vor allem durch das Auto zu verdrängen. Hierin liegt das Problem unserer Zeit und unserer städtischen Kultur.
In der alten bäuerlichen Welt ist es nicht die Uhr, die den Menschen vollkommen erfaßt, sondern der natürliche, sich wiederholende Lauf der Sonne und des Jahres.
Bei den alten Bauern bis in die 60er-Jahre des vorigen Jahrhunderts orientierte man sich im Jahresablauf vor allem an zwei Tagen im Kalender und zwar an Josefi, dem 19. März, und an Michaeli, dem 29. September. Zwischen diesen Tagen war die Hauptarbeit zu tun. Der Boden mußte bestellt, das Vieh auf die Alm getrieben, das Heu eingebracht und das Getreide geschnitten werden. Es ist bemerkenswert, daß das Bauernjahr, wie es bis zur Zeit Julius Caesars offiziell bestanden hatte, mit dem März begann – dem Monat, in dem der Bauer beginnt, die Felder zu bestellen. Die Monatsnamen September, Oktober usw. erinnern noch daran, denn der September ist vom März an gerechnet der siebente Monat. Der Februar war damals der letzte Monat des bäuerlichen Jahres, den der Maler Breughel in seiner Bedeutung noch kannte. Im Februar nahm man durch Lärm und wilde Feste Abschied vom alten Jahr, um sich mit Fasten – Fasching leitet sich davon ab – auf das neue vorzubereiten.
Von der Autarkie und dem Ende der Blumenwiesen
Für die früheren Bergbauern gehörte der Getreideanbau genauso zum Leben am Hof wie das Halten von Vieh. Diese Autarkie des Bauern, der Vieh und Getreide hatte, garantierte das Leben am Hof, auch wenn es ein bescheidenes war. Mit dem Getreideanbau hängt ein altes Wissen zusammen, das bald gänzlich verschwunden sein wird und für das die Ausrichtung an den Zeiten des Jahres wesentlich war. In diesem Sinn erzählte mir ein Bergbauernsohn, der noch in den 1950er-Jahren den Getreideanbau gelernt und hart gearbeitet hatte, daß die Bauern zu Spezialisten geworden seien, für die im Gebirge nur mehr die Viehwirtschaft wichtig sei. „Es hat sich viel gewandelt auf dem Gebiet des Mähens. Der Wandel in den 60er-Jahren war furchtbar. Die Jungen haben keine Ahnung mehr, wie es beim Heuen zuging. Es gibt heute Traktoren, die haben vorne ein Schneidwerk zum Mähen. Wir haben heuer bis zum September schon dreimal das Futter geschnitten.“ Das mehrmalige heutige Mähen hat bewirkt, daß es keine Blumenwiesen mehr gibt, da bereits gemäht wird, bevor die Wiesenblumen sich entfalten können. Das alte bäuerliche Jahr hat also einen wesentlichen Wandel erfahren. Die alten Bauern lebten noch mit der Natur und richteten sich an ihr aus.
Zur Orientierung an der Natur gehörten die alten Bauernregeln.
Heute wird nicht mehr nach alten Bauernregeln gearbeitet, sondern nach den Regeln der „industriellen Ökologie“ und nach dem Gebot der sogenannten Nachhaltigkeit – ein modernes Zauberwort, mit dem ausgedrückt werden soll, daß man die Natur nicht ausbeuten dürfe. Aber man tut sich schwer dabei, denn es geht heute vor allem um das Geschäft mit den bäuerlichen Produkten. Für das bäuerliche Umgehen mit der Zeit waren die alten Bauernregeln wichtig. Beispielhaft seien aufgezählt „Bringt Martina (31. Jänner) Sonnenschein, hofft man auf viel Korn und Wein“ oder „Kalter Februar bringt ein gutes Jahr“.
„Zeit lassen!“ – auch die Wege richteten sich einst bei den Bauern am natürlich Vorgegebenen aus.
Die bäuerliche Kultur war eine Kultur der Langsamkeit, in der Geduld wichtig war, vor allem, wenn man mit eigener Muskelkraft unterwegs war. Die echte dörfliche und bäuerliche Kultur kennt viele Wege. Eine Vielzahl dieser Wege gibt es längst nicht mehr, an ihrer Stelle schuf man langweilige Asphaltstraßen, auf denen man mit dem Auto schnell im Dorf, am Bahnhof und wieder zu Hause ist. Heute geht kaum jemand mehr zu Fuß. Früher ging man zu Fuß, und überall gab es Wege, auf denen man die üblichen Schotterstraßen, die später asphaltiert wurden, abkürzen konnte. Durch Wälder, über Hügel, entlang von Wiesen und zwischen den Feldern gab es Steige und alte Karrenwege, die heute zum großen Teil überwachsen sind und kaum mehr benützt werden, höchstens von lustwandelnden Sommergästen. Die alten Bauern hingegen kannten noch die Muße, auf alten Wegen zu gehen. Mein Vater, der Landarzt, erzählte mir oft mit Bewunderung, daß die alten Bauern, wenn sie einander am Berg begegneten, oft mit „Zeit lassen!“ grüßten. Dieses „Zeit lassen“ scheint heute verschwunden zu sein.
Es gibt aber noch junge Bauern, die sich der alten Bauernkultur und der diese bestimmenden Regeln erinnern und versuchen, sich an diesen auszurichten. Ganz im Sinne des Königs Kohelet, dem im Alten Testament dieser Satz in den Mund gelegt wird: „Alles hat seine Stund’; für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit, eine Zeit zum Gebären und eine zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen, eine Zeit zum Ernten“.
Über den Autor:
Roland Girtler, geb. 1941 in Wien, Dr. phil., Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien, aufgewachsen unter Bergbauern, Holzknechten, Sennerinnen und Wildschützen in Spital am Pyhrn. Forschungen in indischen Bauerndörfern und in den Slums von Mumbai, in städtischen Randkulturen, bei Bauern, Wilderern, Ganoven, feinen Leuten, Dirnen, Pfarrersköchinnen, Tierärzten u.a.; zahlreiche Buchveröffentlichungen.