Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

picturedesk.com/Imagno/Archiv Seemann
Wien, Ringstraße und Universität, 1945

Kriegsende 1945

von Wolfgang Steffanides

Kindheitserinnerungen

Ich bin Jahrgang 1938, mein Bruder 1939, beide geboren und aufgewachsen in Wien. Unsere Mutter stammte aus Südmähren, das Kindermädchen auch, unser Vater aus Wien, dessen Vater aus dem Egerland. 1944 bringt den Beginn der schweren Luftangriffe auf Wien und unsere Evakuierung aufs Land – in unserem Fall zur Schwester meiner Mutter nach Unter-Tannowitz, einige Kilometer westlich von Nikolsburg/Mikulov. Diese meine Tante, Volksschullehrerin mit großer Dienstwohnung, ledig ohne Kinder, gab uns bereitwillig Unterkunft. Es begann eine herrliche Zeit.

„Heile Welt“ im Jahr 1944

Die Ortschaft war damals vor allem landwirtschaftlich geprägt: Feldfrüchte und Weinbau waren vorherrschend. Für Transporte wurden vor allem Pferdefuhrwerke verwendet. Es war für uns Kinder eine heile Welt. Bis heute ist mein erster Eindruck lebendig: „Hier darfst du eine auffallende Mütze tragen!“ – denn die Tiefflieger beachteten strikt die Grenze zu Niederösterreich. Die Schule war angenehm – ich war in der ersten Klasse, eingeschult bei meiner Tante, einer begnadeten Lehrerin. Wir waren rund 100 Kinder unter ihrer Obhut! Die selten notwendigen Disziplinierungsmaßnahmen erledigte der Schulwart.

Unsere Wohnung war im ersten Stock des auch heute noch betriebenen Postamtes. Das Nachbarhaus zur Rechten war das Geburtshaus des österreichischen Politikers, Staatskanzlers und Bundespräsidenten Dr. Karl Renner. Im Hof des damals kaum genutzten kleinen Anwesens war ein Brunnen, an dem ich mich an der Wange verletzte; dergleichen wurde damals geklammert und ist heute noch tastbar. Das Renner-Haus wurde übrigens sehr viel später entfernt und eine Gedenkstätte nebst Gemeindehaus erbaut, wo seit der Wende auch Vertriebene und deren Verbände willkommen sind.
Anfang Mai wurde dann das ganze Dorf nach Westen evakuiert und zwar mit dorfeigenen Mitteln, also vor allem Pferdefuhrwerken. Wir hatten keine Transportmöglichkeit und wurden zunächst vom Künstler-Mus aufgenommen, einem der großen Bauern der Gemeinde. Ich bin sicher, daß während dieser für uns Buben unbeschwerten Zeit mein Verständnis, meine Hochachtung und meine Liebe zu Pferden entstanden sind. Die Dauer des folgenden Trecks ist mir nicht in Erinnerung, jedenfalls kamen wir bis Litschau im niederösterreichischen Waldviertel. Dort waren schon sowjetische Truppen, die uns zurück in unser Dorf befahlen, was auch geschah.

Da wir im Prinzip österreichische Staatsbürger waren, durften wir den Ort noch vor der sogenannten wilden Vertreibung zu Fuß Richtung Süden verlassen, also nach Österreich. Die Grenze war nicht weit. Diese Erinnerung begleitet mich bis heute: Der tschechoslowakische Grenzposten stieß mit dem Bajonett in den Kinderwagen, in dem Mutter, Bruder und ich unser ganzes Hab und Gut hatten. Er zog es mit einem Stück Käse wieder heraus, das er vor unseren Augen auf dem Boden zertrampelte. Das war knapp vor dem 30. Mai, an dem der Brünner Todesmarsch begann. Meine mütterlichen Großeltern waren dabei und wurden nahe Unter-Tannowitz wahrscheinlich zufällig getrennt. Meine Großmutter wurde von einer Tschechin aus Unter-Tannowitz aus dem Elendszug geholt und blieb dann mit ihrer Tochter noch ein Jahr dort – allerdings nicht mehr in ihrer großen Wohnung, sondern als Mägde bei einem Bauern. Auch Großvater überlebte, kam zu uns nach Wien und ist wie auch seine Frau dort verstorben.

Glück im Unglück

Wie ging es mit uns weiter? Zu Fuß und gelegentlich mit sowjetischen Militär-LKW, wenn wir aufgelesen wurden. Das war nicht ungefährlich – einerseits grundsätzlich wegen „Frau“ und andererseits wegen betrunkener Kraftfahrer: Einmal landeten wir im Graben, blieben jedoch unverletzt. Irgendwie erreichten wir dann Wien und kamen zur Reichsbrücke. Meinem Bruder ist heute noch in Erinnerung, daß man durch den Belag das Donauwasser sehen und hören konnte. Schließlich kamen wir nach Hause und hatten nochmals Glück: Wohnung und Geschäft waren weder zerstört noch geplündert! Unser Vater, schon im Ersten Weltkrieg als ganz junger Soldat in zwei Isonzoschlachten so beschädigt, daß er nicht einmal mehr für den Volkssturm herangezogen wurde, konnte uns also aufnehmen und – wenn auch sehr bescheiden – versorgen. Dazu kamen Einquartierungen, Vertriebene aus dem Banat: Damals hörte ich zum ersten Mal und prägend von den Greueln am Balkan. Insgesamt hat meine Familie also gewaltiges Glück gehabt, besonders im Vergleich zu unzähligen anderen…

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