Monatszeitschrift für Politik, Volkstum und Kultur.

Adobe Stock, Andrey Shevchenko
Dom von Frauenburg in Ostpreußen, im Hintergrund das Frische Haff

Norddeutsche Backsteingotik

von Jörg Dittus

Dabei ist der Backstein – gemeinhin auch als Ziegel bekannt – bis in unsere Zeit und in ganz Europa der wohl verbreitetste Baustoff. Allerdings wurde er zumeist hinter Putz oder anderen Materialien versteckt. Bevor aus Ton in industrieller Fertigung Ziegel hergestellt wurden, waren diese ein recht regionaler Baustoff: Hatte man keine zum Bau geeigneten Natursteine zur Verfügung, konnte aber auf Lehm oder Ton zurückgreifen, formte man diese zu handlichen Quadern, ließ diese trocknen oder brannte sie. Das Produkt war modular, maßhaltig und transportabel, weshalb es seinen Siegeszug unter den Baumaterialien durch fortschreitende Massenfertigung und den sich ausbreitenden Handel antreten sollte.

Bevor nun aus einem Backstein die Marienburg, die Marienkirche in Danzig oder die Zitadelle Spandau werden kann, sind viele Arbeitsschritte notwendig. Entweder wird der ausgewählte Lehm oder Ton einige Wochen lang in Wasser gelöst oder durch wiederholte Zugabe von Wasser und anschließendem „Ausfrieren“ im Winter in einen feinkrümeligen Zustand gebracht. Anschließend können Verunreinigungen entfernt werden, bevor fallweise Sand oder Ton beigemengt wird, um die gewünschte Konsistenz zu erhalten. Dann kommt die teigige Masse in einen Formrahmen – einen oben und unten offenen Kasten – oder ein nur oben offenes sogenanntes Model. Es folgt eine mehrwöchige Trocknung an der Luft oder in regenreichen Gegenden in einem luftigen Trockenschuppen. Gebrannt werden die Ziegel in einem Meiler, in welchen sie abwechselnd mit Kohle geschichtet werden. Einschließlich Aufwärmen und Auskühlen dauert der Brennvorgang rund zwei Wochen, wovon nur etwa drei Tage lang Temperaturen von 600–900 °C herrschen. Durch Schwankungen der Temperatur im Innern des Meilers ist der Ausschuß enorm. Bei der heute üblichen industriellen Fertigungsweise kann der Brennvorgang viel kontrollierter vonstatten gehen, was Qualitätsschwankungen minimiert.

Baustoff im „Reichsformat“

In Österreich, Ungarn und Rußland werden Ziegel noch im „Alten Reichsformat“ mit den Maßen 25 × 12 × 6,5 cm hergestellt und verbaut. Dieses Format wurde in Deutschland per Gesetz im Jahre 1872 eingeführt, nachdem indu­strielle Fertigung sowie Transport durch die Eisenbahn ein reichsweit einheitliches Format erforderten. Somit wurde es möglich, Gebäude aus Ziegeln verschiedener Herkunft errichten zu können. In der BRD wird auf das „Neue Reichsformat“ zurückgegriffen, welches die alten Maße an das neu eingeführte metrische System anpaßte und nun Ziegel mit den Abmessungen 24 × 11,5 × 7,1 cm bedingte. Die Breite von 11,5 cm plus der 1 cm starken Fuge ergibt 12,5 cm oder ⅛ Meter. Die Länge von 24 cm wiederum ergibt sich aus der doppelten Breite plus einer Fuge. Die Höhe des Ziegels von 7,1 cm ergibt sich aus der Zwölfteilung eines Meters und dem nachfolgenden Abzug der Lagerfuge mit einer Höhe von 1,2 cm. Man spricht bei diesem Ziegelformat vom oktametrischen System, auf welches auch andere Gewerke wie Fenster und Türen ausgerichtet sind. Die Länge aus der doppelten Breite plus einer Fuge ist in Geschichte und Gegenwart der Ziegelherstellung üblich und logisch, um ordentliche Ziegelverbände errichten zu können.

Die Kunst der Fuge

Ziegel wurden und werden auf der Baustelle konstruktiv ganz gleich wie Natursteine eingesetzt. Einen großen Unterschied gibt es dann aber doch: die Mörtelfuge. Diese wurde notwendig, da Ziegel brüchiger und leichter als Natursteine sind, weshalb sie nicht vor Ort mit Hammer und Meißel aneinder angepaßt werden konnten und auch nicht nur durch ihre bloße Masse aufeinander liegenblieben. Die Mörtelfuge gleicht nun herstellungsbedingte Unebenheiten aus und sorgt für einen satten Sitz, der zur Ableitung statischer Kräfte dringend erforderlich ist. Bei heutigen großformatigen Planziegeln, sprich Ziegeln, die in der Größe mehrere Normalformatziegel auf einmal ersetzen und überdies mit äußerst geringen Maßtoleranzen aufwarten können, wird die Mörtelfuge auch entsprechend dünn: Aus 1,2 cm wurden 2 mm. Gleichzeitig konnten durch Luftkammern Dämmwerte erreicht werden, die eine zusätzliche Dämmung durch etwa erdölbasierte Hartschaumplatten unnötig machen. Das ist nicht nur ökologisch betrachtet erstrebenswert, sondern trägt auch zu einem behaglicheren Raumklima bei.

„Proletarisches“ Baumaterial

Ganz generell ist Ziegel ein recht warmer Baustoff, was nicht nur auf seine meist rötliche Farbe und seinen irdenen Ursprung zurückzuführen ist; auch speichert Ziegel Wärme und gibt sie langsam wieder ab. Dadurch ist der Temperaturverlauf zwischen Tag und Nacht viel harmonischer und damit für den Bewohner angenehmer. Man denke nur an die geradezu ausgestrahlte Kälte von Betonwänden. Backsteinbauten strahlen eine Bodenständigkeit und Rustikalität aus, die zwar für niedersächsische Bauernarchitektur überaus passend erscheint, aber bei Sakralbauten immer ein wenig deplaziert wirkt. Aber vielleicht liegt darin auch die Anziehungskraft letzterer begründet: die Spannung zwischen dem zum Himmel strebenden Kirchenbau und dem eher bäuerlichen Baustoff; eine meiner Professorinnen nannte den Ziegel häufig das „proletarische“ Baumaterial.

Herausforderung Sichtbauweise

Aus Ziegeln ein Haus zu bauen, ist an sich recht einfach, und so verwundert es auch nicht, daß dieser Baustoff weltweit durch alle Zeiten hindurch verbreitet war und ist. Besonders einfach wird es, wenn man die Wände verputzt oder anderweitig verkleidet. Anspruchsvoll in Planung und Ausführung wird es hingegen, wenn man mit Ziegeln in Sichtbauweise baut, sie also nicht verkleidet. Denn dann fällt jeder geteilte Ziegel, jede unregelmäßige Setz- oder Lagerfuge auf – selbst beim größten Bauwerk. Verziehen wird hier nichts! Und so war jeder Kirchenbau in Backstein nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Art Leistungsschau. Aber auch von kultureller Versiertheit des Bauherrn sollte das Bauwerk Zeugnis ablegen. So brachte zum Beispiel Heinrich der Löwe, der als einer der maßgeblichen Verbreiter der Backsteingotik gilt, diese Art zu bauen aus dem Norden Italiens mit, als er gemeinsam mit Kaiser Friedrich Barbarossa 1154/1155 ebendort weilte. An sich ironisch, daß der Norden Deutschlands lange Zeit vom Baustoff Ziegel „verschont“ blieb – da die Römer diesen nicht so weit verbreiten konnten – und nun ausgerechnet Heinrich der Löwe diesem „welschen“ Stein in Deutschland zum Durchbruch verhalf.

Backsteinrenaissance von Hamburg bis Graz

Beliebt war Backsteinbau zu fast allen Zeiten. Im 20. Jh. kam es mit dem Backsteinexpressionismus noch einmal zu einer richtiggehenden Renaissance. Arno Lederer und Fritz Höger gelten als die namhaftesten Vertreter dieser Stilrichtung, das Chilehaus in Hamburg und die Böttcherstraße in Bremen sind wohl nicht nur Architekturfachleuten ein Begriff. Doch auch im Süden griff man zuweilen auf den rohen Erdstein zurück, ein wahres Meisterstück an Präzision im Umgang mit Ziegeln ist die Herz-Jesu-Kirche in Graz. Selbst das für seine weißen Wände bekannte Bauhaus hatte eine „Backsteinphase“, unter seinem zweiten Direktor Hannes Meyer, der die Parole „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgab und die Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau bei Berlin in ortsüblichen Ziegeln errichten ließ.

Auch heute ist der Ziegel noch immer der meistverbaute Baustoff. Er ist einfach zu handhaben, schnell verlegt und recht kostengünstig. Während Stahlbeton Aushärtezeiten benötigt, kann eine Ziegelwand viel früher belastet werden. Ein- und ausgeschalt werden muß auch nicht. Und da in den meisten Fällen ohnehin beidseitig mindestens verputzt wird, ist maximal erzielbare Präzision auch nicht immer unbedingt erforderlich.

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