von Christoph Bathelt
Elferrat und Rosenmontagszug, Tusch und Narhallamarsch kennen selbst Fastnachtsverächter aus dem Fernsehen. Doch die Fastnacht ist viel mehr als das und für viele Familien in den Hochburgen des rheinischen Karnevals Freizeitgestaltung, Lebenseinstellung und Identität.
Die entsprechenden Traditionen und Hintergründe sind ebenso vielfältig wie ihre Ausprägungen: Ausgehend vom „wilden“ Volkskarneval des Mittelalters sollte im 19. Jh. das Treiben seine Ordnung finden. Gleichzeitig bot es im Vormärz neben Gesangs- und Turnvereinen die Möglichkeit, Kritik am politischen System oder gesellschaftlichen Entwicklungen wie dem preußischen Militarismus unterzubringen. Und selbst diese Traditionen wurden mittlerweile wieder Ziel von Kritik, aus Sitzungen wurden „Stehungen“, aus Prunksitzungen „Stunksitzungen“ – es ist also alles sehr kompliziert.
Auf die historische Volksfastnacht soll hier nicht eingegangen werden – vor allem in den katholischen Gegenden wurde jedenfalls kurz vor Beginn der Fastenzeit wild gefeiert, soziale Rollen wurden getauscht, und selbst am Hof des Kurfürsten wurde das sogenannte „Mainzer Königreich“ zelebriert, bei dem sogar Seine Erzbischöflichen Gnaden bisweilen als Diener für das Wohl der Gäste sorgen mußten.
Der organisierte Frohsinn begann allmählich mit dem 19. Jahrhundert.
Den ominösen General Riçambeau „Ritzambo, Ritzambo, morsche fängt die Fastnacht oo“ gab es nicht, und Karnevalsvereine mußten sich jedes Jahr aufs neue gründen, was natürlich die Organisation erschwerte. Mit der Gründung des Mainzer Carneval-Vereins (MCV) und der Mainzer Ranzengarde im Jahr 1838 kam etwas Ordnung in das Ganze: Die Saalfastnacht für satirische Beiträge und der jährliche Rosenmontagszug, der von der genannten „Garde“ – in karikierten Uniformen des alten Kurfüstentums – eskortiert wurde. Der „Ranzen“ bezog sich auf den erwünschten üppigen Körperumfang der Mitglieder – was die „Langen Kerls“ des preußischen Soldatenkönigs in der Länge ausmachte, sollte bei ihnen in der Breite erreicht werden.
Vor allem die ironischen und zeitkritischen Vorträge wurden zu einer Besonderheit der Mainzer Fastnacht. Die während der närrischen Tage ab 1841 herausgegebene und noch heute bestehende Zeitung „Narrhalla“ war eine der wenigen Veröffentlichungen des Vormärz’, wo sich Stimmen gegen Kleinstaaterei, Zensur und für Demokratie und „Preßfreiheit“ äußern konnten. Gelegentliche weiße Stellen im Text wurden mit „Die närrische Zensur hat diese Strophe gestrichen“ gekennzeichnet.
Die Garden – die es in abgewandelter Form natürlich auch in anderen Städten gibt – sind eine Mainzer Besonderheit, welche vermutlich in der 2000jährigen Geschichte als Festungsstadt wurzelt: Ursprünglich Parodie auf das Soldatentum sind viele von ihnen von den Uniformen der jeweiligen Besatzungstruppen inspiriert. Schwedische Landsknechte, friderizianische Husaren und Grenadiere und österreichische Dragoner sorgen alljährlich für ein buntes Bild. Die örtlichen Militärs nahmen diese Darstellung meist mit Humor, die Kapellen der stationierten Einheiten – vor allem die Österreicher – beteiligten sich gerne am musikalischen Rahmenprogramm: So gelangte der aus Adolphe Adams Oper Le Brasseur de Preston stammende, vom österreichischen Regimentskapellmeister Carl Zulehner (1805–1847) bearbeitete Narhallamarsch zu Weltruhm und wird heute sogar bei Heimspieltoren des Fußballerstligisten Mainz 05 abgespielt.
Zu den Ausnahmen gehören die 1857 gegründeten „Haubinger“, bei denen auch die Männer biedermeierliche Betthauben tragen, die „Kleppergarde“, welche ihre Uniformen ursprünglich aus kostengünstigen Papierschnitzeln fertigte, und die „Freischützengarde“, die 1901 aus Sympathie zu den um ihre Freiheit kämpfenden Afrikaanern als „Burengarde“ gegründet wurde und darum den „Südwesterhut“ mit hochgeklappter Krempe trägt. Zusätzlich zu den parodierten Uniformen gibt es in jedem Jahr eine Flut an Orden, die von den Trägern mit großem Stolz zur Schau gestellt werden.
Carnevalsvereine von großbürgerlich bis „rot“
So ist für jeden Geschmack etwas dabei: Zum früher großbürgerlich geprägten MCV gesellte sich im Laufe der Jahre der von Kaufleuten und Handwerkern gebildete MCC (Mainzer Carneval Club), der als „rot“ galt, und viele Stammtischgruppen, Hobbymusiker oder Wandergruppen eröffneten ihre eigenen Vereine. Mit wachsender Größe der Organisation gibt es für die Kleinsten oft ein „Kadettenkorps“ und je nach weiteren Talenten Untergruppen wie einen „Fanfarenzug“, ein „Hofballett“ und Gesangsgruppen. Alle diese Mitglieder, Gardisten und Musiker treffen einander natürlich das ganze Jahr über und sind häufig familien- und generationsübergreifend miteinander verbunden. So wurde das Ganze zur Freizeitgestaltung und sogar zur Lebenseinstellung über die närrische Zeit hinaus.
Die überregionale Popularität liegt zum Teil auch an einigen schon früh erfolgten Innovationen: So fanden zusätzlich zu den kleinen Feiern in Lokalen und Gaststätten schon seit den 1880er-Jahren große und prächtige Fastnachtssitzungen in der Mainzer Stadthalle statt, damals die größte Festhalle Deutschlands mit bis zu 5.000 und bei Bällen sogar bis zu 6.000 Personen Fassungsvermögen.
Selbst im Nationalsozialismus konnten die Karnevalisten eine gewisse Freiheit bewahren. Zwar gab es ein paar antisemitische Motivwagen am Rosenmontagszug, aber insgesamt war der NSDAP das närrische Treiben nicht geheuer: Schon 1933 wurde ein offizielles Verbot der „Glossierung der Führer in Staat und Gemeinde“ erlassen, und Mitglieder des Bundes Deutscher Mädel durften während der tollen Tage ihre Uniformen nicht tragen, um eine Veralberung zu verhindern. Viele paßten sich zwar an, aber Schmählieder wie das Kölner „Hurra, mer wäde jetzt die Jüdde los“ gab es in Mainz nicht. Vielmehr riskierten Redner wie Martin Mundo und Seppel Glückert einige Frechheiten, weswegen das Komitee des MCV 1935 frühmorgens von der Polizei abgeholt und im Centralhotel Eden zu einem Frühstück empfangen wurde – vom Gauleiter, der sich über die blassen Gesichter der „Gäste“ sehr amüsierte.
Humba täterää, Ernst Neger und sein Einschaltquotenrekord für die Ewigkeit
1937 erfolgte erstmals die Übertragung einer „Haubensitzung“ des MCC, die auf eine Stunde angesetzt war. Aufgrund der begeisterten Reaktionen der Hörer entschied der Reichssender Frankfurt daraufhin, sie auf vier Stunden bis Mitternacht zu verlängern. MCC und MCV waren es auch, die seit 1955 die Fernsehsitzung Mainz, wie es singt und lacht organisieren, seit 1973, gemeinsam mit dem Gonsenheimer Carneval-Club und dem Karneval-Klub Kastel: Sie entwickelte sich zum allgemeinen Straßenfeger, selbst im deutschsprachigen Ausland. 1964, als der beliebte „singende Dachdeckermeister“ Ernst Neger das Lied Humba täterää das erste Mal vortrug, erreichte die Sendung den bis heute unübertroffenen Einschaltquotenrekord von 89 Prozent. Viele Lieder Negers und seines blinden Begleiters, des Komponisten Toni Hämmerle, wurden zu Ohrwürmern und das Heile, heile Gänsje zu einer Art Hymne der Stadt Mainz – vor allem durch den Refrain „in hunnert Jahr is alles weg“, der in der von den Kriegszerstörungen besonders betroffenen Stadt für große Emotionen sorgte.
Deutschlandweit bekannt genossen der langjährige Sitzungspräsident Rolf Braun und Redner wie Herbert „Wo lassen Sie denken?“ Bonewitz oder Jürgen Dietz, „Der Bote vom Bundestag“ ob ihrer geschliffenen Redekunst über viele Jahre großes Ansehen. Für Bonewitz entwickelte sich daraus sogar eine separate Karriere als Kabarettist. Im Gegensatz zu Städten wie Köln oder Düsseldorf wurde in Mainz jedoch immer viel Wert darauf gelegt, vor allem Amateure einzusetzen und keine Medienprofis. Berufssatiriker wie Lars Reichow werden darum bei der Fernsehsitzung mit Befremden gesehen.
Vom traditionellen „Kokolores“ zur neuen Vulgarität
Modernisierungsversuche hat es zwar immer gegeben, sie waren aber bisher nicht sehr erfolgreich: Noch immer gibt es einen Elferrat, der die Sitzungen präsidiert und häufig wiederkehrende Charaktere wie den „Chef des Protokolls“, der politische Geschehnisse der vergangenen Jahres ironisch kommentiert, den „Till“ (Eulenspiegel) und den „Bajazz mit der Laterne“ für nachdenklich-melancholische Momente. Dennoch darf harmloser Spaß, der auch „Kokolores“ genannte Frohsinn, nicht fehlen.
Während aber jahrhundertelang die Kritik an Regierungen und den herrschenden Verhältnissen üblich war und dem Redner im Narrenkleid „alles“ gestattet war, machen sich vor allem im Fernsehen allgemein zeitgeisthörige, politisch korrekte Banalität und besonders in Köln erhebliche Obszönität breit.