von Olga Litzenberger
Erinnerungen der „Kinder der Deportation“
Dieser Artikel basiert auf Interviews der Autorin mit Rußlanddeutschen, die 1941 gemeinsam mit ihren Eltern deportiert worden waren. Zunächst wurden die Befragten gebeten, ihre eigene Kindheit in einem Satz mit wenigen Worten zu beschreiben. Während heute üblicherweise die Assoziationen zum Wort „Kindheit“ am häufigsten „Freude“, „spielen“ und „Glück“ lauten, wählte die Mehrheit der Befragten ganz andere Begriffe. Eine der Antworten, die alle anderen in ihrer Bedeutung vereint, ist im Titel aufgeführt: „Wir hatten keine Kindheit“. Viele Befragte nannten auch „schwierig“, „kalt“, „hungrig“ und „schrecklich“.
Ein erheblicher Anteil der Befragten erwähnte negative Erfahrungen in der frühen Kindheit aufgrund ihrer deutschen Herkunft. „Die erste Auskunft meines Lebens zur Herkunft meines Nachnamens hat mich fassungslos gemacht, hat mich schockiert (…). Schon damals, im Alter von sechs Jahren, dachte ich, es sei nicht gut, Deutscher zu sein“, erzählte Anatoly W. „Und dann wurde mir klar: Ich bin auch Deutscher! Das gibt‘s doch nicht! Und als mein älterer Freund mir auf der Straße unter vier Augen sagte, daß ich ein Deutscher sei, drehte ich mich mehrmals um, um sicherzustellen, daß es niemand außer mir hörte. Am nächsten Tag hatte ich keine Lust, nach draußen zu gehen. Ich scheute mich, mit meiner Mutter auf der Straße bei einer deutschen Nachbarin anzuhalten, weil diese immer Deutsch sprach – es könnte ja jemand hören! Damals war es nicht ungewöhnlich, daß Kinder andere als „Faschisten“ bezeichneten. Manchmal eskalierten verbale Auseinandersetzungen zu Schlägereien“. Die Angriffe von Gleichaltrigen traumatisierte deutsche Kinder von frühester Kindheit an, unterdrückte sie, wirkte sich negativ auf ihre Entwicklung aus und trug zum Entstehen von Unsicherheit und Schuldgefühlen bei.
Kartoffelschalen in der gefrorenen Erdhütte
Die Mehrheit meiner Gesprächspartner betonte auch die schwierige wirtschaftliche Situation: „Hunger“ und „Armut“. Eine der Befragten, Emilia P., geb. 1936, antwortete, als sie gebeten wurde, ihre Kindheit in einem Satz zu beschreiben: „Meine Kindheit war eine gefrorene Erdhütte, Kartoffelschalen, die ich monatelang essen mußte, die ständige Abwesenheit von Erwachsenen und ein kleiner Bruder mit Rachitis, um den ich mich kümmerte, als ich selbst fünf oder sechs Jahre alt war“. Kinder aus den deutschen Sondersiedlungen, die ohne die zur Zwangsarbeit geschickten Eltern zurückgeblieben waren, wurden so gezwungen, sich allzu früh in das Erwachsenenleben einzugliedern und aktiv daran teilzunehmen.

Arbeitslager. Philipp (1914–1968) und Elisabeth (1916–1953) mit ihren Kindern Berta, Heinrich und Emma.
Archiv Olga Litzenberger
Auch die hohe Sterblichkeitsrate unter den deportierten Deutschen wurde von vielen Befragten genannt, absolut alle jedoch erwähnten das Essen von Kartoffelschalen, die die Bauern trockneten, um damit ihr Vieh zu füttern. Bertha, geb. 1938, erinnerte sich: „Nachdem meine Großmutter bereits alles, was sie nach der Deportation mitgebracht hatte, gegen Lebensmittel eingetauscht hatte, gab es nichts mehr zu essen. Wir bettelten, sammelten von der ansässigen Bevölkerung Kartoffelschalen, kochten sie, brieten sie, gaben Brennesseln dazu. Wenn es keine Kartoffelschalen mehr zum Überleben gab, gingen wir auf die Felder, schaufelten Schnee, suchten und sammelten verfaulte, gefrorene Kartoffeln; sie waren süß und wäßrig, wurden getrocknet und zu Mehl gemahlen, damit niemand verhungerte.“ Irma B. erinnerte sich, daß es „im Frühling und Sommer besser“ wurde, „man sammelte Knospen und Kräuter“. Mehrere Befragte erwähnten, daß man Krähen aß, sie wurden „geschossen und gebraten“, ebenso wie deren Küken, die aus ihren Nestern geholt und zu Suppe verarbeitet oder über einem Feuer direkt am Feld gekocht wurden.
Berta L. erinnerte sich: „Meine Mutter schickte mich zum Stehlen auf die Kolchosefelder, denn sie selbst hätte dafür ins Gefängnis kommen können. Ich sammelte vom Feld alles, was ich konnte und steckte Hafer in einen kleinen Sack. Meine Hände und Füße bluteten, aber ich wußte, daß ich Essen nach Hause bringen würde. Sie konnten mich für einen Eimer Weizen ins Gefängnis stecken, aber ich brachte eine Handvoll mit, und so überlebten wir.“ Elvira O. erzählte: „Die Schwester meiner Mutter war als 16jähriges Mädchen im Gefängnis, man hatte 200 Gramm Weizen in ihren Stiefeln gefunden. Es war eine harte Zeit.“
Die Deportation zerstörte die früheren Konturen der Welt der Kindheit.
Die Trennung von ihren Eltern, die zur Arbeitsarmee mobilisiert worden waren, zwang die Kinder unweigerlich dazu, die Stadien des Erwachsenwerdens früher zu durchlaufen und die Arbeit der Erwachsenen zu verrichten. Maria S. erzählte, daß sie vor der Deportation zwei Klassen der deutschen Schule abgeschlossen hatte, aber danach nie wieder zur Schule gegangen war. Die Welt der Kinder verschmolz mit der Welt der Erwachsenen, unabhängig vom Alter. Die Deportation zerstörte die früheren Konturen der Welt der Kindheit.
Die meisten unserer Gesprächspartner, die vor der Deportation geboren worden waren, gingen sehr spät in die erste Klasse: Emilia P. im Alter von elf Jahren, ab 1947, Olga S. und Irma B. im Alter von zehn Jahren, ab 1948. Der 1930 geborene Alexander P. ging nach der Deportation nicht mehr zur Schule, und der 1928 geborene Joseph M. konnte erst in den 1950er-Jahren eine Abendschule besuchen. Ausnahmslos alle Befragten gaben an, daß sie erst in der Schule begannen, Russisch zu lernen. In einigen Schulen in Kasachstan wurde jedoch in Kasachisch unterrichtet, und die deportierten deutschen Kinder mußten so die kasachische Sprache lernen.

Siedlung Dittel im Wolgagebiet
Foto: Evgenii Moshkov, 2012.
Zu den lebhaften ersten Erinnerungen an den Schulbesuch gehörte der Mangel an Kleidung und Schuhen. Emilia P. sagte, daß sie nur bis zum ersten Frost am Unterricht teilnehmen könne, und nach dem ersten Schneefall mußte sie zu Hause bleiben, da ihre Mutter keine warmen Schuhe für ihre Kinder kaufen konnte. Mehrere Befragte sagten, daß ein Paar Schuhe von mehreren Kindern gleichzeitig habe genutzt werden müssen und daß sie bei kaltem Wetter die Löcher in den alten Filzstiefeln der anderen mit Heu gestopft hätten. Bertha L. erinnerte sich: „Wir hatten fast keine Schuhe, ab dem Frühjahr gingen wir barfuß bis zum Herbst. Die Haut an unseren Fersen wurde rauh. Im Winter wickelten wir unsere Füße mit Lumpen ein. Meine Mutter hatte Überschuhe, aber nur ein Paar für die ganze Familie. Elvira O. erwähnte: „Wenn wir irgendwo einen Sack fanden, wurde ein Kleid daraus genäht. Fast alle russischen und kasachischen Kinder hatten Kleider und Schuhe, und wir waren sehr neidisch auf sie“. Ein interessantes Thema vieler Interviews in diesem Zusammenhang ist die erzieherische Rolle der Religion, wenn es unmöglich war, eine Schule zu besuchen. Der Vater von Victor S. starb in der Arbeitsarmee, und seine Mutter war so krank, daß das Kind sie bei der Arbeit in der Kolchose vertreten mußte. Selbst im Alter von 28 Jahren, als er heiratete, konnte Victor immer noch nicht lesen. Victor sagte, daß er später durch ein deutsches Gesangsbuch zum Lesen und Schreiben kam.
„Wir waren immer hungrig, aber fröhlich.“
„Ich weiß nicht, wie wir als Kinder überlebt haben, woher wir unsere Kraft nahmen, wir waren immer hungrig, aber fröhlich. Wir liefen barfuß, spielten ohne Spielzeug, mit Heugabeln statt mit der Gitarre, veranstalteten Tänze ohne Musik, lachten und hatten plötzlich keinen Hunger mehr. Ich weiß nicht, wie wir überlebt haben…“, – faßt Emilia P. zusammen. Das bittere Schicksal der deportierten Deutschen war auch eine Tragödie für ihre Kinder, die zusammen mit den Erwachsenen alle Entbehrungen ertrugen. Die tragische Lebenserfahrung der Kinder, die die Deportation erlebten, prägte deren Zukunft, beeinflußte die nationale Identität, die Mentalität und die Werte einer gesamten Generation von Deutschen aus der UdSSR und ihrer Nachkommen.
Über die Autorin:
Prof. Dr. Olga Litzenberger, geb. in Saratow (Rußland), wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bayerischen Kulturzentrums der Deutschen aus Rußland in Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Siedlungen und der römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, Vorsitzende des Forschungsvereins der Deutschen aus Osteuropa, Trägerin des Erika-Kiwek-Preises der ÖLM für russlanddeutsche Forschung 2023.