Zar Alexander II., „Geburtshelfer“ des kleindeutschen Nationalstaates
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Deutsche und Russen von Tauroggen bis heute

von Mario Kandil

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland in der Vergangenheit: Oft wirkten beide zusammen, so richtig seit der Konvention von Tauroggen 1812. Oft aber waren sie auch erbitterte Gegner, was meist für beide Seiten ausgesprochen nachteilig endete.

Nach dem Untergang von Napoleons „Grande Armée“ auf ihrem Rückzug aus Rußland schloß der preußische General Yorck – wiewohl nicht Oberkommandierender des 20.000 Mann starken preußischen Hilfskorps und hierzu auch gar nicht autorisiert – am 30. Dezember 1812 zu Tauroggen ein Neutralitätsabkommen. Mit dem in russischen Diensten stehenden General Diebitsch vereinbarte er eine Neutralisierung der preußischen Streitkräfte: Für den Fall, daß Preußens König Friedrich Wilhelm III. die Übereinkunft verwerfen sollte, wurde den Truppen Yorcks freier Abzug konzediert. Doch durften sie dann bis zum 1. März 1813 nicht mehr gegen die Russen eingesetzt werden. Durch die Eigenmächtigkeit Yorcks wurden die Befreiungskriege ausgelöst, die Deutschland und Europa von dem Joch der napoleonischen Fremdherrschaft erlösten.

Tauroggen war der Ausgangspunkt einer erneuerten Allianz zwischen Preußen und Russen – 1806/07 hatte sie schon einmal bestanden –, bei der aber Preußen nur Juniorpartner Rußlands war. Nach außen wurde das zuerst nicht sichtbar, waren doch die beiden Mächte zusammen mit Österreich in der „Heiligen Allianz“ von 1815 vereint. Die Führungsrolle des Zarenreiches zeigte sich jedoch klar, als dieses bei der 1848er-Revolution Österreich half, den Aufstand der Ungarn niederzuwerfen. Und als Preußen 1850 innerhalb des Deutschen Bundes eine Union mit kleineren deutschen Staaten bilden wollte, wurde es von Rußland rigoros zurückgepfiffen.

Der russische Zar als Geburtshelfer des kleindeutschen Nationalstaates

Doch Preußen blieb nicht in dieser untergeordneten Stellung. Nachdem sich Rußland und Österreich durch den Krimkrieg (1853-56) entzweit hatten, stieg Preußen in dem Maße in des Zaren Achtung, in dem Österreich sank. Dies spielte Bismarck in die Hände, der mit zunehmendem Einfluß auf Preußens Politik seinen Kampf gegen Österreich durch Instrumentalisierung Rußlands immer effektiver führen konnte. 1862 zum Lenker der preußischen Politik geworden brachte er den Zaren dazu, während des Deutschen Krieges von 1866 zwischen Preußen und Österreich zwar neutral, aber preußenfreundlich zu sein. Damit nicht genug: Alexander II. hielt während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 durch seine drohende Haltung Österreich gegenüber dieses davon ab, Rache für die Niederlage von 1866 zu nehmen. So machte sich der russische Zar 1870/71 um die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates verdient.

Aber als Führungsmacht des zweiten Deutschen Kaiserreiches war Preußen aus seiner Rolle als Juniorpartner der Russen herausgewachsen: Das neue Deutschland ließ sich nicht mehr so gängeln wie vorher Preußen. Es wollte sich von Rußland, das jetzt Dankbarkeit für 1870/71 einforderte, nicht schikanieren lassen. Nun kühlte sich das deutsch-russische Verhältnis deutlich ab, und der virtuose Außenpolitiker Bismarck war gefordert. Er schloß mit dem deutschfreundlichen russischen Außenminister Giers am 18. Juni 1887 ein auf drei Jahre befristetes Geheimabkommen, den „Rückversicherungsvertrag“.

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit

Als nach dem von Kaiser Wilhelm II. 1890 erzwungenen Rücktritt Otto von Bismarcks dessen Nachfolger als Reichskanzler, Caprivi, das schwierige „System der Aushilfen“ nicht länger aufrechterhalten konnte, entfernte sich Rußland wegen der am Zarenhof herrschenden Deutschfeindlichkeit immer mehr vom Reich – wie es Bismarck ungeachtet des Rückversicherungsvertrages auch erwartet hatte. Daher ist es keineswegs sicher, ob das „Jonglieren mit fünf Bällen“ auch dann weiterhin gelungen wäre, wenn Bismarck Leiter der deutschen Außenpolitik hätte bleiben können. Das Zarenreich trat am Ende ins Lager des auf Rache für 1870/71 sinnenden Frankreichs über. Tauroggen als Option deutscher Außenpolitik hatte Deutschlands Einkreisung durch Rußland, Frankreich und England nicht zu unterbinden vermocht. Im Ersten Weltkrieg waren Deutsche und Russen Gegner.
Das änderte sich, als nach der russischen Oktoberrevolution 1917 die Bolschewisten als neue Machthaber zur Sicherung ihrer Position in Rußland mit Deutschland den Frieden von Brest-Litowsk schlossen (3. März 1918). Dennoch standen am Ende des Ersten Weltkrieges beide Länder als die großen Verlierer da. Insbesondere das Deutsche Reich lag durch den Versailler Diktatfrieden am Boden, und so schlossen sich mit dem Vertrag von Rapallo am 16. April 1922 zwei Parias der damaligen internationalen Politik zusammen.

Verbündete, Todfeinde, Verbündete, Todfeinde

Die in Rapallo besiegelte deutsch-russische Wiederannäherung schlug in Todfeindschaft um, als nach Hitlers Machtübernahme dessen Nationalsozialismus und Stalins Bolschewismus die jeweils von ihnen regierten Staaten gegeneinander in Stellung brachten. Zu dieser Zeit versuchten Frankreich und England die antikapitalistische UdSSR für eine Allianz gegen das Deutsche Reich zu gewinnen. Hitler sah dessen Einkreisung – wie bereits vor dem Er­sten Weltkrieg – als reale Gefahr heraufdämmern und warf das Ruder herum: Er verleugnete mit einem Schlag seine antibolschewistische Grundhaltung, stellte seine Propaganda gegen die Sowjets ein und strebte den Schulterschluß mit seinem „Diktatorenkollegen“ Stalin an. Kurz: Hitler zog die Tauroggen-Karte – und hatte Erfolg. Am 23. August 1939 wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet, der – wie von heutigen Geschichtspolitikern und ihren wissenschaftlichen Handlangern gerne ausgeblendet – nicht nur Hitler und Deutschland großen Nutzen eintrug, sondern auch Stalin und seiner „friedliebenden“ Sowjetunion: Mit dem geheimen Zusatzprotokoll war so zum Beispiel das Schicksal der Bessarabiendeutschen – der Verlust ihrer Heimat und die Umsiedelung in das „Großdeutsche Reich“ – vorgezeichnet.

Vertreibung, Vergewaltigung und ein Jahrzehnt Kriegsgefangenschaft

Das deutsch-russische Zusammenwirken endete in Strömen von Blut an der Ostfront und der Vertreibung von Millionen Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, einschließlich der bestialischen Massenvergewaltigung deutscher Mädchen und Frauen durch die gänzlich enthemmten Rotarmisten bei ihrem Vordringen nach Westen. Angesichts all dessen war der am 12. Juli 1943 in Krasnogorsk vom „Nationalkomitee Freies Deutschland“ unterschriebene „Aufruf an die Wehrmacht und an das deutsche Volk“ nur ein übles Manöver der sowjetischen Propaganda. In diesem riefen 300-400 deutsche Soldaten und Offiziere, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, zum Widerstand gegen das Regime Hitlers auf. Als Marionetten an Stalins Fäden sahen viele von ihnen darin die Chance, eine politische Kooperation zwischen Deutschland und Rußland in die Wege zu leiten. Sie bemerkten nicht, daß sie von den Sowjets nur benutzt wurden und saßen naiv dem „Tauroggen-Mythos“ auf.

Wie „gut“ es Stalins UdSSR mit den Deutschen meinte, zeigte die Behandlung der ca. 3,3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen im Sowjetreich. Die meisten überlebten diese Tortur nicht, und die letzten 10.000 von ihnen ließen die Sowjets erst zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges als Resultat von Bundeskanzler Konrad Adenauers Besuch in Moskau frei.
Der Tyrann Stalin war Jahre davor mit einer Note an die „Westmächte“ USA, Großbritannien und Frankreich her­angetreten. Doch Kanzler Adenauer, der gegenüber der UdSSR eine „Politik der Stärke“ propagierte und in dieser Note lediglich einen Täuschungsversuch Stalins sah, hatte die Westmächte dazu gebracht, dessen Vorschläge ohne nähere Prüfung zu verwerfen: So kam es nicht zu einem vereinten und neutralisierten Deutschland. Dessen Teilung hielt vielmehr bis zur (kleinen) Wiedervereinigung von 1990 an.

Für immer Gegner?

Seit ihrer Gründung 1949 ist die BRD auf das engste mit der westlichen Führungsmacht USA verbunden, was primär auf Adenauers Politik der Westbindung bzw. Westintegration basiert. Als Folge hiervon sind Deutsche und Russen – ungeachtet der ab 1969 betriebenen „Neuen Ostpolitik“ Willy Brandts und des Endes der UdSSR 1991 – bis heute Gegner. Der im Februar 2022 begonnene Krieg von Wladimir Putins Rußland gegen die Ukraine hat diese aus der BRD-Unterordnung unter die US-Politik resultierende Gegnerschaft verlängert und verstärkt. Daß sich an dieser jemals etwas ändern wird, erscheint derzeit mehr als zweifelhaft.

Über den Autor:

Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.

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