von Jean-Jaques Langendorf
Zuerst gab es die „Welt von Gestern“ wie Stefan Zweig sie nannte, also eine Monarchie, sogar eine doppelte, ein Herrscherhaus mit großer Vergangenheit, einen Vielvölkerstaat, zahlreiche Errungenschaften und Rückschläge und viele Menschen, die sich durch Genie und Fleiß ausgezeichnet hatten. Dann, nach einem verlorenen Krieg, kam die Rache der Sieger, die nur einer Idee folgten: Wehe den Besiegten. Der französische Ministerpräsident Clemenceau antwortete auf die Frage, was Österreich nach dem Vertrag von Saint Germain sei, zynisch „C’est ce qui reste!“ – „Das ist das, was übrigbleibt!“. Und in der Tat war das Reich zerstückelt, jetzt ohne Zugang zum Meer, das Herrscherhaus ins Ausland geflüchtet, die Republik proklamiert, die Armee quasi abgeschafft wie auch die Adelstitel; die Wirtschaft lag am Boden, die Arbeitslosigkeit war erdrückend. Ein einziges Wort faßte die Lage zusammen: Erniedrigung. Viele wählten das Auswandern, andere das ewige Auswandern in die Ewigkeit, den Freitod.
Es gab aber auch eine Kategorie von Menschen, die schon eine ansehnliche Rolle in der Monarchie gespielt hatten und ihre Situation retten, sich weiter behaupten konnten. Man könnte sie die „erfolgreichen Übergänger“ nennen und findet sie in der Wirtschaft, der Armee und der intellektuellen Welt.
Von der Geburt in der Schusterwerkstatt zum Weltunternehmen
Tomáš Baťa (1876-1932) ist in doppelter Hinsicht ein Paradebeispiel: zuerst erfolgreich in der Monarchie und dann sogar sehr erfolgreich in einer ehemaligen Provinz der ehemaligen Monarchie: Böhmen und Mähren. Er wurde in der Ortschaft Zlin geboren, 80 Kilometer östlich von Brünn. Seine Vorfahren, kleine Handwerker, haben Schuhe und Pantoffeln hergestellt. Der 1844 geborene Vater verkaufte seine Erzeugnisse auf Jahrmärkten. Durch Fleiß und Sparsamkeit war es ihm gelungen, seinen Betrieb zu vergrößern, der schließlich sieben Leute beschäftigte. Für ihn gab es auf der Welt nicht Höheres als den Beruf eines Schuhmachermeisters. Sein Sohn Thomas, der das Licht der Welt in der Werkstatt erblickte, teilte sein Leben lang diese Ansicht. Bald merkte der junge Mann aber, daß die Herstellung und der Verkauf von Schuhen zwei verschiedene Paar Schuhe waren. Er entschloß sich, seinen Aktionsradius zu erweitern und versuchte sein Glück erst in Prag und dann in Wien, wo er seine Deutschkenntnisse verbesserte, Zu dieser Zeit fand er sein Ei des Kolumbus: Man muß die Herstellungskosten der Schuhe senken, sodaß sie für jedermann (und jede Frau) leicht erschwinglich werden. Baťa ersetzte daher das Oberleder durch Leinen und rationalisierte die Produktion. Nach der Großbestellung einer Wiener Firma kaufte er im Deutschen Reich mehrere Maschinen und errichtete bald seine erste Fabrik. Als er die Überzeugung gewann, daß die Massenproduktion von Schuhen in den Vereinigten Staaten am fortgeschrittensten sei, entschloß er sich, dorthin zu reisen. In die Heimat zurückgekehrt war das Ende der Ära der handwerklichen Schuherzeugung besiegelt. Bald wurden seine Produkte in ganz Europa bekannt. Im Ersten Weltkrieg wurde er zum Heereslieferanten, und sein Betrieb erfuhr einen gewaltigen Aufschwung mit 4.000 Arbeitern, die täglich 10.000 Paar Militärschuhe herstellten. Nachdem 1918 die tschechoslowakische Republik ausgerufen worden war, gingen die Geschäfte in schwindelerregender Weise aufwärts. Wenn 1900 die Fabrik in Zlin 120 Arbeiter beschäftigte, so waren es 19.722 im Jahre 1931, die täglich 176.000 Paar Schuhe produzierten. Zu dieser Zeit war die Firma Bata ein Weltunternehmen geworden. Die Schuhe hatten triumphal überlebt, die Monarchie nicht.
Ein Wandler zwischen den Welten im Schatten
Die Offiziere und höheren Offiziere der ehemaligen k.u.k. Armee haben oft ein trauriges Schicksal erfahren. Ohne Herrscher, ohne Befehlshaber, ohne Armee, oft ohne Geld, von den „Linken“ angefeindet sind sie die echten Ausgestoßenen der neuen Republik. Es gibt aber auch Ausnahmen: Maximilian Ronge (1874-1953) ist eine davon. „In Herbst 1907 wurde ich – damals Generalstabshauptmann in Graz – ins Evidenzbüro des Generalstabes berufen“, schreibt er. Der Nachrichten-, Spionage- und Spionageabwehrdienst, in den Ronge aufgenommen wurde, zeichnete sich zu jener Zeit vor allem durch seine extreme Bescheidenheit aus. Als Leiter der Kundschaftsgruppe hatte Ronge einen einzigen Mitarbeiter. Anfang 1912 umfaßte das Evidenzbüro insgesamt nur 28 Bedienstete, deren Zahl Mitte 1914 auf 42 erhöht wurde. Entschlossen ging Ronge daran, den Kundschafterdienst zu reorganisieren. Ein Offizier des Evidenzbüros schreibt über ihn: „Sobald er die Leitung des Büros übernommen hatte, veränderte er das System grundlegend. Mit unglaublicher Ausdauer und unendlicher Geduld machte er sich an die Arbeit. Er unterhielt die besten Beziehungen mit dem deutschen Großen Generalstab, der Wiener Polizei, den Politikern, der Staatsanwaltschaft und der Generaldirektion der Post.“
Der Name Maximilian Ronges ist untrennbar mit dem spektakulärsten Spionagefall, der die Donaumonarchie am Vorabend des Ersten Weltkrieges erschütterte: mit dem Fall Redl. Im Frühling 1913 kann Ronge in Wien den k.u.k. Obersten Redl ausfindig machen und verhaften, ihn, der gegen Geld zahlreiche militärische Informationen den Russen hatte zukommen lassen. Im Krieg geht Ronges brillante Karriere weiter. Im April 1917 wird er, inzwischen zum Obersten befördert, zum Chef des Evidenzbüros ernannt. Er sieht sich vor zahlreiche komplexe Aufgaben gestellt wie die Jagd auf Spione im Inneren des Landes oder in den besetzten Gebieten, entwickelt bald eine echte „Spionagepsychose“ und sieht in jedem Menschen einen potentiellen Feind. Seine Anschuldigungen führen zu zahlreichen Hinrichtungen. Sein Enkel, der Historiker Jagschitz, spricht sogar von einem Massenmörder. Nach dem Krieg blieb Ronge, immer als glühender Monarchist, in verschiedenen offiziellen oder geheimen Funktionen im Zentrum der Macht, nach 1945 arbeitete er sogar für die Amerikaner. Für diesen Offizier ist der Übergang von der Monarchie zur Republik nie ein Problem gewesen.
Chinas Außenpolitik anerkennt Metternich, Dollfuß – und von Rosthorn
Es gibt auch „Übergänger“, die nicht in der Heimat Triumphe feierten, sondern in der Ferne. Arthur von Rosthorn (1862-1945) gehört dazu. In Wien und Oxford studierte er Sprachwissenschaften mit einer Vorliebe für Sinologie. Vom chinesischen Seezolldienst 1883 engagiert arbeitete er in verschiedenen Häfen, bereiste das Land und perfektionierte sein Chinesisch. Nach zehn Jahren zurück in Europa promovierte er, hatte aber alle Mühe, in den diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden, weil er kein Jurist war. 1897 wurde Rosthorn Geschäftsträger in Peking. Ab Juni 1900 wurde das Gesandschaftsviertel von Peking von den Boxern – chinesischen Proto-Nationalisten und Europäerhassern – belagert. In Begleitung seiner Frau Paula kämpfte er mit den Soldaten, die das Viertel verteidigten, obwohl er Sympathie für die rebellierenden Chinesen empfand – „Wäre ich Chinese, wäre ich Boxer“, rief er einmal aus. Obwohl überzeugter Katholik und „liberaler Monarchist“, wie er sagte, kritisierte er die Tätigkeit der Missionare, weil sie der Xenophobie der Chinesen Vorschub leisten würden, denn die Bekämpfung des Ahnenkults trage dazu bei, das soziale Gefüge des Landes zu zerstören.
1911 wurde Rosthorn endlich zum Gesandten in China ernannt. Der Revolution gegenüber zeigte er sich äußerst zurückhaltend, den er war überzeugt, daß die Monarchie das einzige Mittel sei, um das Riesenreich China zusammenzuhalten. Unter dem Druck der Japaner erklärt China im August 1917 Österreich-Ungarn den Krieg – ein Trauertag für Rosthorn. Eines Morgens brachte ein Herr vom chinesischen Außenamt einen versiegelten Brief, und Rosthorn erzählt: „Der Minister Wang lasse mir sagen, wie schwer es ihm gefallen sei, mir diesen Brief zu schreiben. Ich wüßte nicht, welcher Druck auf die Regierung ausgeübt worden sei. Der Brief enthielt die Kriegserklärung.“ Dieser Brief bedeutete auch das Ende der diplomatischen Karriere Rosthorns. Nach Wien zurückgekehrt veröffentlichte er grundlegende Werke über China, die ihn zum besten Sinologen seiner Zeit machten. Unermüdlich verteidigte er die Unabhängigkeit Chinas, wo er als Held betrachtet wurde. Er war besonders stolz, daß China das „Versailler Diktat“ nicht unterschrieb. Im großen Wörterbuch der Außenpolitik, das 1935 in China veröffentlicht wurde, ist er neben Metternich und Dollfuß der einzige Österreicher, der Erwähnung findet.
Drei Männer – Baťa, Ronge, Rosthorn, der erste mit Schuhen, der zweite mit List und der dritte mit Wissen –, die die große Depression von 1918 überwunden haben.