Hegemonie und Wahlerfolge

von Benedikt Kaiser

Kaisers Zone (21)

Mit den Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) in Sonneberg (Thüringen) und Raguhn-Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) hat eine Sparte des bundesdeutschen Journalismus’ Hochkonjunktur: Skandalberichterstattung. Man sucht im etablierten Mediensumpf zwischen ARD, ZDF und den „Qualitätszeitungen“ vergeblich nach ausgewogenen oder zumindest unvoreingenommenen Analysen des blauen Siegeszuges durch die Mitte der Bundesrepublik Deutschland.

Verhält es sich in der Forschung anders? Zumindest teilweise kann man das bejahen. Sehen wir uns ein Beispiel an: Klaus Dörre lehrt seit vielen Jahren an der Universität Jena (Thüringen). Als Soziologe, der über Arbeiterklasse, Gewerkschaften und Entwicklungen in den neuen Bundesländern publiziert, ist er auch jenseits des akademischen Betriebes ein gefragter Experte: klar links, aber immerhin im Bemühen, die konkreten Situationen einigermaßen „fair“ einzuordnen. So auch aktuell im Fall der AfD-Erfolge. Das Wochenmagazin Der Spiegel befragt Dörre zur aktuellen Politzäsur, also zu den ersten kommunalen „Regierungsübernahmen“ der AfD im Juni und Juli 2023. Dörre zeigt sich nicht überrascht: Er habe es genauso erwartet. Aber: Ein „Dammbruch“, wie es landauf, landab genannt werde, sei das nicht. Denn die entscheidenden Weichen für diese Erfolge seien viel früher gestellt worden. Und damit trifft Klaus Dörre jenen Punkt, den in patriotischen Milieus – insbesondere Parteimilieus! – noch zu wenig handelnde Personen verinnerlicht haben: Erst kamen die Akzeptanz und vielerorts auch die erreichte Dominanz für konservative und volksverbundene Standpunkte im Osten der BRD, dann kam der Erfolg einer Partei, die diese Standpunkte als Alleinstellungsmerkmal im parlamentarischen Rahmen für sich beanspruchen konnte. Es verhält sich demnach so: Hegemonie wird nicht durch Wahlergebnisse hergestellt, Wahlergebnisse sind die Folge von Hegemonie!

Éric Zemmour, französischer Bestsellerautor und Kopf der Partei Reconquête, formuliert es in seinem jüngsten Buch Je n’ai pas dit mon dernier mot (2023) ganz „gramscianisch“, also im Sinne der Hegemonietheorie des revolutionären Denkers Antonio Gramsci, folgendermaßen: Erst kommen die Ideen, die zirkulieren müssen, dann kommt die Aktion, die Handlung, um diese Ideen zu verbreiten, schließlich erst die Wahlentscheidung für oder gegen eine Partei.

Zurück zu Dörre, der – passend zu dieser Gramsci-Zemmour-Schrittfolge – die große Akzeptanz und Verbreitung AfD-naher Ansichten als Vorbote der Wahlerfolge einordnet, da es im Osten der BRD „ein gesellschaftliches Umfeld“ gebe, „in dem man sich offen zu diesen Ansichten bekennen kann, im Bewußtsein, den Common Sense zu artikulieren, in der Mehrheit zu sein“. Dieses gesellschaftliche Umfeld aber wird nicht durch Parteien geschaffen, sondern durch das „Vorfeld“, durch eine vielgestaltige und arbeitsteilige Formation, die von Zeitschriften über Aktivistengruppen bis zu Heimatvereinen reicht. Freilich: Diese Erkenntnis ist noch nicht zu jedem AfD-Verantwortlichen vorgedrungen. Arbeiten wir daran, daß dies sich ändere!

Über den Autor:
Benedikt Kaiser, Jg. 1987, studierte an der Technischen Universität Chemnitz im Hauptfach Politikwissenschaft. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lektor und Publizist. Kaiser schreibt u.a. für Sezession (BRD), Kommentár (Ungarn) und Tekos (Belgien); für éléments und Nouvelle École (Frankreich) ist er deutscher Korrespondent.

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