von Mario Kandil
Kalendarium Kandili (38)
War er ein Prophet, oder hatte George Orwell nur auf der Basis des Totalitarismus’, den er selbst erlebte, „hochgerechnet“, wohin dieser führen werde? Jedenfalls erschien vor nunmehr 75 Jahren, am 8. Juni 1949, in London sein dystopischer Roman 1984 (im Original Nineteen-Eighty-Four) und nahm vieles vorweg, was inzwischen längst Realität ist. Diese übertrifft inzwischen bisweilen Orwells düstere Visionen.
Hier wird nicht der Inhalt dessen wiederholt, was Eric Arthur Blair – so hieß George Orwell eigentlich – in finsteren Farben malte. Weisen wir lieber auf Parallelen hin, die zu den ach so freien „westlichen“ Demokratien heutiger Prägung bestehen: Die von der Presse und den elektronischen Medien weitgehend selbst geübte Zensur legt der veröffentlichten Meinung de facto einen Maulkorb an, damit nur ja keine vom Standpunkt der Obrigkeit aus betrachtet unerwünschten Ansichten publik würden. Im zur Ersatzreligion erhöhten „Kampf gegen rechts“ wird alles, was nicht „links“ steht, automatisch für „rechts“ und damit auch gleich „rechtsextremistisch“ erklärt. Durch die Einheitsmedien aufgepeitscht bejubeln es die Massen heute reflexartig, wenn wieder ein „Rechter“ enttarnt und seiner „gerechten“ Bestrafung zugeführt wird. Zähne werden gefletscht, Fäuste werden geballt, der „Böse“ wird von der Gemeinschaft der Gutmenschen unisono verdammt, denn es gilt: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ Diese heutigen Rituale erinnern schockierend daran, wie in Orwells „Ozeanien“ die perfiden „Gedankenverbrecher“, die Hauptfeinde des „Großen Bruders“ und seines Regimes, von zahllosen „Brüdern“ und „Schwestern“ mit geballten Fäusten verwünscht werden.
All das geht mit der sprachlichen Disziplinierung einher, die Orwell ebenfalls schon beschrieben hatte: der Eliminierung traditioneller Bedeutungen von Wörtern; der Etablierung von Euphemismen, die der Förderung des auf politische Verschleierung abzielenden „Politsprechs“ dienen; inkriminierten Wörtern; Abkürzungen, die den Propagandadruck auf das Volk erhöhen. Man denke hier nur an den weitverbreiteten Genderschwachsinn.
Kein Wunder, wenn der 1903 geborene Orwell angesichts seiner Zukunftsperspektiven die Lust am Leben verlor und schon 1950 starb – wiewohl primär an Tuberkulose. Denken wir immer an einen zentralen Satz aus seinem berühmtesten Werk 1984: „Und wenn alle anderen an die von der Partei verbreitete Lüge glaubten […], dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.“
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.