Kalendarium Kandili (1)
von Mario Kandil
Der Reformator Martin Luther war beseelt von dem Gedanken einer Übersetzung der Heiligen Schrift für die Bedürfnisse der einfachen, weniger gebildeten Menschen seiner Zeit, die zu den griechischen und lateinischen Texten keinen Zugang hatten. Durch seine Übersetzung wollte er eine Bibel für das ganze Volk schaffen. Für seine Übertragung des Neuen Testaments (NT) aus der altgriechischen in die neuhochdeutsche Sprache benötigte Martin Luther vor 500 Jahren auf der Wartburg gerade einmal elf Wochen, was eine bemerkenswert kurze Zeitspanne war. Die Textgrundlage des Neuen Testaments bildete der von dem Humanisten Erasmus von Rotterdam herausgegebene griechische Urtext des NT. Spätere Versionen wurden Textus receptus genannt. Im Herbst 1522 lag – rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse – die Erstauflage des NT vor.
Ab dem Jahr 1534 gab es dann auch eine deutschsprachige Vollbibel, weil Martin Luther inzwischen auch das Alte Testament übersetzt hatte. An der Vollbibel – auch Lutherbibel genannt – nahm der Reformator Zeit seines Lebens weitere Verbesserungen vor, bis zu den letzten Korrekturen mit eigener Hand 1545, ein Jahr vor seinem Tod. Die Lutherbibel stellte zwar keineswegs die erste Bibelübersetzung ins Deutsche dar, beeinflußte die Entwicklung der deutschen Sprache allerdings so nachhaltig wie kein anderes Literaturwerk.
Bei der Lutherbibel handelt es sich um eine philologische Übersetzung, die sich gleichzeitig in hohem Maße an der Idiomatik der deutschen Sprache orientiert. Auch zeichnet sie sich durch Martin Luthers herausragende sprachschöpferische Leistung aus, indem der Reformator viele noch heute im Gebrauch befindliche Wörter und Redewendungen schuf. Nachdem die Versionen des 20. Jahrhunderts sich der modernen deutschen Sprache angenähert hatten, folgte die Revision 2017 dem „Grundsatz“, wieder möglichst nahe an Luthers Sprachstil zu bleiben. Aber sie frönte dem Zeitgeist und kreierte so viel Unsägliches, daß Luther sich im Grab umdrehen würde…
Über den Autor:
Dr. phil. Mario Kandil M.A., geb. 1965, studierte in Aachen Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Politische Wissenschaft und promovierte in Hagen. Nach langjähriger Tätigkeit im universitären Bereich und in der Erwachsenenbildung heute freier Historiker und Publizist. Forschungsschwerpunkte: Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. sowie der Nationalstaaten, Weltkriege und Kalter Krieg.